Die Tänzerin im Schnee - Roman
ich die Antwort. Sie ist einfach da – in ihren Gesichtszügen und in ihrem ganzen Wesen. Alles, was nicht von Rick und seinen Eltern kommt, müssen sie von meiner Seite der Familie haben. An meinen Kindern kann ich endlich sehen, wo ich herkomme.«
Grigoris Eltern hatten ihm erst spät alles über seine Adoption erzählt. Zum einen hatte seine Mutter, obwohl sie eingefleischte Wissenschaftlerin war, immer an die Macht des Schicksals geglaubt. Sie wollte, das hatte Grigori im Nachhinein begriffen, das Wunder, ihn nach so vielen Jahren des Hoffens doch noch in den Armen halten zu können, nicht durch die klägliche Wahrheit über die Umstände trüben, die ihn dort hingebracht hatten. »Es war eine unangenehme ›Geschichte‹«, sagte sie später, »und lückenhaft dazu. Sein Vater, Feodor, neigte ohnehin dazu, jede unnötige Komplikation zu vermeiden. »Es geht auch einfach«, hatte er immer gesagt – als könnte man so etwas angesichts der Komplexität des Lebens ernsthaft behaupten.
Manchmal sah Grigori noch immer seine Mutter vor sich und den schnurgeraden Scheitel, der ihr langes graubraunes Haar genau in der Mitte teilte. Schon als Kind hatte es ihn fasziniert, wie einfach und gerade diese Linie war, als sei sie ein Symbol für Katjas unerschütterliche Geduld und Konzentration. Einmal, als kleiner Junge, als sie noch in Russland lebten, hatte er mitangesehen, wie seine Mutter abends ihr Haar kämmte. Als sie die Spangen löste, die es tagsüber fest am Kopf hielten, war ihr Haar viel länger und glatter, und Grigori erschrak heftig darüber, Katja auf einmal als junges Mädchen vor sich zu sehen. Er konnte sich noch heute deutlich daran erinnern; nicht nur an sein Staunen, sondern an die Furcht, die es ihm einflößte, diese plötzliche Verwandlung zu sehen – zu erleben, wie jemand, den er zu kennen glaubte, plötzlich ein anderer Mensch wurde.
Solche plötzlichen Verwandlungen sollten sie alle drei noch oft genug durchmachen. Als Grigori elf Jahre alt war, setzte sich sein Vater bei einer Forschungskonferenz in Wien in den Westen ab. Katja schaffte es wie geplant, mit Grigori nach Norwegen zu fliehen, und Feodor stieß fünf Monate später zu ihnen.
Dort, in Norwegen, hatte Grigori als Junge einmal mitangehört, wie eine Freundin seiner Eltern, eine Nachbarin, spaßhaft und nebenher zu seiner Mutter sagte: »Euer Problem ist, dass ihr Russen seid. Ihr versteht nun mal nichts davon, glücklich zu sein.« Auch diese Worte hatte Grigori nie vergessen, obwohl er der Frau nicht wirklich glaubte. Wenn seine Eltern tatsächlich etwas düster wirkten, lag das daran, dass sie viel durchgestanden und noch mehr hinter sich gelassen hatten: ihre Freunde, ihre Familie (auch wenn sie nicht viele Verwandte hatten), die vertraute Umgebung, eine Sprache, die sie mühelos beherrschten. Erst viel später hatte Grigori begriffen, dass ihre Flucht etwas mit der Wissenschaft zu tun gehabt hatte, mit dem, woran sie arbeiteten und woran sie glaubten. Und es gab noch so vieles, das er bis heute nicht verstanden hatte. Drei Jahre hatten sie in Norwegen verbracht, waren anschließend nach Paris gezogen, und dann, als Grigori sechzehn Jahre alt war, hatte Katja eine Stelle an der Universität in New Jersey angenommen. Sein Vater fand Arbeit in einem Labor. Also verwandelte sich der junge Grigori, schlaksig und halbwüchsig, wie er war, so gut er konnte, in einen Amerikaner.
Das alles hatte er Christine später erzählt, und auch seine Erinnerungen an die heimliche Fahrt nach Norwegen und seine ersten Wochen in Paris, als er noch kein Wort Französisch sprach. Er erzählte von dem ersten Warenhaus außerhalb der Sowjetunion, von seiner Verblüffung, als sich der Verkäufer bei seiner Mutter für ihren Einkauf bedankte. Er erzählte, wie er in Paris zum ersten Mal unzählige Sorten Salat kennenlernte. Wie er bei der Landung in Amerika aus dem Fenster blickte, zwischen den Häusern lauter blaue Rechtecke und Kreise entdeckte und es kaum glauben konnte, als ihm jemand erklärte, das seien die Swimmingpools der Hausbesitzer. Es war seine dritte Verabredung mit Christine, als er all das erzählte, und von dem Abend an liebte er sie, weil er die Art liebte, wie sie ihm zuhörte: vollkommen konzentriert, als versuchte sie, sich alles genau vorzustellen.Das war, wie er jetzt begriff, der erste Schritt in dem Prozess, den Amelie beschrieben hatte: auf dem Weg zu sich selbst über die Liebe zu anderen.
Er hatte Christine auch erzählt,
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