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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Pik-Königin.« Vera hat ihre Beine jetzt vor sich ausgestreckt und hebt die Knie etwas, zieht sie zu sich heran, so dass der Wadenmuskel neben ihrem Schienbein deutlich hervortritt. Träumerisch fährt sie fort: »Freitags waren wir immer alle im Dampfbad …« Sie schlingt die Arme um die Knie, lehnt sich nach vorn und sieht Gersch direkt in die Augen. Nina erinnert sich daran, wie sie sich damals bei ihrer ersten Begegnung mit Viktor gefühlt hat, wie sehr sie ihm auf Anhieb vertraute. Vera nickt Gersch wie abschließend zu und sagt: »So wurde das Kirow zu meiner Familie.«
    »Und trotzdem bist du fortgegangen.«
    »Das Bolschoi ist das beste Ensemble der Welt. Wie hätte ich da nein sagen sollen?« Aber Nina fragt sich, ob es wirklich so einfach war, ob es ein Angebot war oder nicht vielmehr ein Befehl. Wieder schmerzt sie der Gedanke, wie schwer es für Vera gewesen sein muss.
    Als Viktor zu spielen aufhört, wird es plötzlich still im Zimmer. Gersch greift nach einer Zigarette, und dann hebt er plötzlich die Brauen und blickt an seinen Gästen vorbei. Mit einem gespielt amüsierten Gesichtsausdruck zeigt er stumm in die andere Ecke des Zimmers, wo ein Häufchen Staub wie ein winziger Ameisenbau auf dem Boden liegt.
    Aber es ist kein Staub, sagt er: »Das ist Mörtel.« Er sieht hoch und zeigt auf einen kleinen dunklen Fleck an der Decke. Dann steckt er sich die Zigarette an, als gäbe es gar keinen Grund zur Beunruhigung.
    »Ist das ein Loch?«, wispert Vera. Fast sieht es wie ein Farbfleck aus, so klein und schwarz, wie es ist.
    »Muss wohl frisch gebohrt sein«, sagt Gersch und atmet ruhig den Rauch aus.
    Nina ist starr vor Schreck. Viktor sagt: »Man sollte doch meinen, dass sie wenigstens ihren eigenen Dreck wegmachen.« Dann steckt er sich auch eine Zigarette an.
    »Nein, das ist es ja gerade«, sagt Gersch leise. »Wir sollen wissen, dass sie uns hören können.«
    Aber was könnten sie gehört haben?, fragt Nina sich. Niemand hat irgendetwas Falsches gesagt oder getan, und das Klavier hätte ohnehin alles übertönt. Sie betrachtet das Loch mit einer Mischung aus Besorgnis und Ehrfurcht.
    Viktor wendet seinen Kopf leicht zur Seite und lässt den Rauch über seine Schulter strömen. »Und, willst du deinen kleinen Ameisenhügel nicht auffegen?«
    »Vielleicht kommen ja demnächst noch mehr«, sagt Gersch. »Dann kann ich eine Sammlung anlegen.«
    Aber ihr lässiges Geplauder ändert nichts. Gersch wird offensichtlich auf irgendeiner Liste geführt. In letzter Zeit ist der Ton gegenüber Menschen wie ihm in den Zeitungen und öffentlichen Ansprachen deutlich schärfer geworden. Fast im Wochentakt werden jüdische Intellektuelle verhaftet und jüdische Organisationen aufgelöst. Vielleicht ist das der Grund, dass Zoja heute nicht hier ist. Für jemanden in ihrer Position wäre es unter solchen Voraussetzungen sicher nicht vorteilhaft, mit Gersch allzu eng in Verbindung gebracht zu werden. Aber die teuren Pralinen …
    Gersch hat sich an den Flügel gesetzt, um eine Glinka-Mazurka zu spielen, und Nina beruhigt es ein wenig, ihm zuzusehen. Er ist einer jener Musiker, die beim Spielen erst wirklich zu sich selbst kommen. Sein Zynismus weicht purer Emotionalität, und er wirkt viel kraftvoller und präsenter. Es ist Nina schon öfter aufgefallen: Plötzlich wird seine ganze Leidenschaft sichtbar, ja spürbar. Das haben sie beide gemeinsam, fällt ihr jetzt auf: diese ursprüngliche, körperliche Verbundenheit mit Rhythmus und Klang.
    Vera legt ihren Kopf auf die Hände und sieht Gersch aus großen, dunklen Augen zu, und Viktor lehnt sich zurück, um zu lauschen. Seiner ganzen Körperhaltung ist anzusehen, wie sehr er glauben möchte, das Bohrloch in der Decke habe gar nichts weiter zu bedeuten. Schließlich tut Gersch nichts Unrechtes, was gäbe es also Schlimmes zu hören oder zu sehen?
    Gersch spielt sehr lange und raucht dabei mit Viktor Zigaretten, bis der ganze Raum mit warmem Dunst gefüllt ist. Die Glut frisst sich langsam voran, und die Asche fällt zu Boden, bildet kleine Häufchen, genau wie der Bohrstaub. Nina konzentriert sich lieber auf die Liebe,die sie um sich herum spürt, nicht nur zwischen Viktor und ihr oder zwischen Gersch und Viktor, sondern jetzt auch zwischen Vera und Gersch. Sie bleiben sehr lange so beisammen und trinken Tee aus dem billigen Samowar. Es ist, als wollten sie noch etwas abwarten, als wünschten alle vier, die Nacht würde nie zu Ende gehen. Als sie sich verabschieden,

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