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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Frauen in Kamelhaarmänteln und die Männer im langen Mantel, aber ohne Hut. Der Oberkellner führt sie zu einem Tisch in der Nähe, nah genug, dass Nina sie reden hören kann. Sie sprechen Französisch, aber nicht das vertraute Vokabular des Balletts, und Nina versteht trotz ihres obligatorischen Sprachunterrichts in der Bolschoi-Schule kein Wort. Plötzlich überkommt sie eine unerklärliche Sehnsucht, und zugleich schämt sie sich – dafür, dass sie nichts versteht, und dafür, dass sie es verstehen möchte. »Ich wünschte, ich könnte auch eine andere Sprache sprechen«, sagt sie sehr, sehr leise.
    »Das kannst du doch«, sagt Viktor. »Die Sprache des Tanzes.«
    Aber Nina fühlt nur noch diesen unvertrauten, jähen Drang, die Welt jenseits ihrer Heimat kennenzulernen, Orte zu bereisen, von denen sie nur träumen kann, den Klang wahrhaft fremder Sprachen zu hören, nicht nur das übliche Georgisch und Kalmückisch, Lettisch und Usbekisch. Gegen ihren eigenen Willen beneidet sie Viktor, der viel weiter gereist ist als sie selbst, einmal sogar nach England, letztes Jahr erst. Er und zwei andere Autoren (und ihre Eskorte vom MWD) haben einen russischen Dichter besucht, der seit dreißig Jahren dort lebt. Das unausgesprochene Ziel ihrer Reise war es, ihn in die Heimat zurückzuholen, aber trotz all ihrer Bemühungen glückte es Viktor und den anderen nicht, ihn umzustimmen. Dafür gelangen ihnen andere, nicht weniger aufregende Dinge: Sie kauften Gabardine-Anzüge, Rollkragenpullover, Krawatten aus Liberty-Seide – und, viel wichtiger noch, englisches Penizillin, das viel besser wirkt als das russische. Für Nina und die anderen Ehefrauen brachten sie Nylonstrumpfhosen und Kosmetika mit.
    Wie so oft muss Nina jetzt an die Dame denken, die damals in dem feschen Hut und mit den Diamantohrsteckern das Grandhotel verließ. Das Verlangen von damals kehrt zu ihr zurück und mit ihm die Erkenntnis, dass ihr eigenes Land trotz seiner gewaltigen Größe nur ein Teil im riesigen Mosaik der Welt ist.
    Im Lokal geht es jetzt weniger lebhaft zu. Die anderen Gäste sind vorsichtig geworden, ihre Gespräche leiser und ihre Trinksprüche kürzer. Nur weit hinten im Saal lässt ein betrunkenes junges Pärchen sich nicht bremsen. Als sie ein Zigeunerlied zu grölen beginnen, spürt Nina wieder diese merkwürdige Scham; sie wünscht, sie wäre ganz woanders.
    Auch Viktor und die anderen wollen aufbrechen, mögen sich aber noch nicht voneinander verabschieden. Also gehen sie noch zu Gersch nach Hause. Nina ist viel lieber in seinem Zimmer – mit dem vertrauten Geruch nach Zigarettenrauch, Tee und muffiger Wäsche – als in ihrem eigenen am anderen Ende des Gebäudes, wo Madame »grippal« im Bett liegt oder schimpfend am Tisch sitzt, um ihr Besteck zu zählen, Enkelkinder zu fordern und voller Verachtung auf Nina herabzublicken. Fast hätte Viktor die heutige Vorstellung verpasst, weil sie eins ihrer Dramen inszeniert hat, einen schier endlosen Hustenanfall, bei dem Nina sicher ist, dass sie ihn selbst herbeigeführt hat. Manchmal reicht schon ein Blick von Madame, um ihr alles schmerzhaft klar vor Augen zu führen: dass Nina für sie nicht anders ist als die übrigen Bauernlümmel in den Nachbarzimmern, ein gewöhnliches Mädchen, das Ansprüche auf Dinge stellt, die ihr nicht zustehen – auf Viktor oder sogar auf den Raum, den sie körperlich einnimmt, die Nähe zu Ihro Exzellenz und ihrem edlen Geblüt.
Du bist nicht Lilja
.
    Aber Viktor verehrt seine Mutter. Vor ein paar Monaten hat er ihr einmal warmes Wasser für ein Fußbad gebracht. Nina hat ihn durch den Türspalt beobachtet, als könnte es ihr helfen, alles besser zu verstehen, wenn sie zusieht, wie Lola auf Madames Schulter eifrig an ihren Ohrgehängen herumpickt, während Viktor ihr liebevoll – anders kann man es nicht nennen – die schwere Wanne zu Füßen stellt.
    Seitdem hat Nina es vermieden, die beiden zusammen zu beobachten, weil sie nicht noch einmal erleben möchte, welche Gefühle es bei ihr auslöst. Sie fragt sich, ob auch Vera es vermeidet, allzu früh in das immer etwas traurige Zimmer von Ninas Mutter zurückzukehren.
    Bei Gersch zu Hause lässt sich Vera erschöpft auf das harte, dunkle Sofa neben dem Flügel sinken. »Du wirst weiter solchen Erfolg habenmüssen«, sagt sie zu Viktor, »damit wir immer Grund zum Feiern haben.«
    Viktor ist sichtlich geschmeichelt, bemüht sich aber um einen nonchalanten Ton, als er fragt: »Na so was, wo kommen die

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