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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Altpapierkorb. Er riskierte einen Blick in den Flur hinaus – Evelyns Bürotür war geschlossen, also war sie noch nicht da. Ein Gefühl stieg in Grigori hoch, das er nicht benennen konnte. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, um den Anrufbeantworter abzuhören. Es war nur eine Nachricht darauf. Heutzutage benutzten eben alle lieber E-Mails.
    Die Nachricht war von Drew Brooks.
    »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir jetzt die offiziellen Ergebnisse aus dem Labor haben«, erklärte ihre selbstsichere Stimme. »Der Kettenanhänger ist wirklich aus Baltischem Bernstein.«
    Grigori war zutiefst erleichtert. Aber dann fügte Drew auch schonhinzu, sie habe trotzdem »noch eine kleine Frage« an ihn. Ob er schnellstmöglich zurückrufen könne.
    So viel zum Thema Erleichterung. Mit einem besorgten Stirnrunzeln griff Grigori zum Telefon, um im Auktionshaus anzurufen. Dann hielt er mit klopfendem Herzen inne, weil er vom Flur her eine Frauenstimme näher kommen hörte. Aber nein, es war nicht Evelyn, nur Carla, die sich gerade mit Dave unterhielt.
    Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Es würde alles gut werden. Evelyn und er waren schließlich erwachsene Menschen, und es gab keinen Grund, warum sie diese Angelegenheit nicht vernünftig regeln sollten. Dennoch kam er sich plötzlich vollkommen überfordert vor, wusste nicht, was er ihr sagen, wie er ihr gegenübertreten sollte. Nach kurzem Nachdenken warf sich Grigori den Mantel über, lief auf die schneeverwehte Straße hinaus und bestieg die Linie B in Richtung Back Bay.
     
    Herbstlicher Duft nach nasser Erde, nach einem Hauch von Frost, nach Kohlenfeuern. Bis Mitternacht am Bolschoi, und dann nächtliche Mahlzeiten im Aurora: Stockfisch, dick geschnittene Knoblauchwurst …
Die Fontäne von Bachtschyssaraj
– mit Nina als Zarema und Vera als Maria – ist wie immer ein großes Spektakel mit vielen exotischen Kostümen und einer wilden Tatarenhorde. Dazu kommt ein neues, ernsteres Stück,
Der eherne Reiter
, über die notwendige Unterordnung des Individuums unter das Gemeinwohl.
    Auch von Gersch wird in jenem Herbst 1949 ein neues Werk uraufgeführt. Eine Cellosonate – der schmerzlich schöne Klang der Sehnsucht. Nina meint, in diesem Stück etwas von Gersch selbst zu erkennen, von einer tiefen, mysteriösen Zärtlichkeit, die sie hinter seiner unverschämten Art schon immer erahnt hat. Eine Woche später sitzt Viktor kopfschüttelnd vor der neuen Ausgabe der
Prawda
.
    »Was gibt es denn?«
    »Ach, nur wieder so ein Kritiker. Es geht um Gerschs neues Stück.«
    »Darf ich mal?«
    Leise, fast tonlos, sagt Viktor: »Purer Opportunismus, mehr nicht.« Er reicht Nina die Zeitung.
    Der Artikel ist eher ein Aufsatz denn eine Kritik, eine Abhandlungüber all die Eigenschaften, die von sowjetischer Musik erwartet werden – und die Gerschs Stück nicht besitzt.
Dieses bis ins Mark von den Einflüssen bourgeoiser Dekadenz durchsetzte Machwerk ohne jeglichen sozialen Kontext ist ein einziger erdrückender Beweis für die kriecherische Anbiederung seines Komponisten an den Westen.
    Der Kritiker schimpft Gersch einen »Antipatrioten« und benutzt auch jenes andere Wort, das neuerdings immer öfter zu hören ist. Es gibt sogar einen bösartigen kleinen Spottvers darüber, der unter der Hand die Runde macht:
    Willst du nicht gelten als Antisemit,
    Nenn doch den Itzig »Kosmopolit«.
    Eigentlich sollte sich Nina über diese Rezension nicht weiter wundern, nach allem, was in letzter Zeit in den Zeitungen zu lesen war. Besonders nach jenem langen, schonungslosen Leitartikel in der
Kultura i Schisn
… Aber eins wird ihr plötzlich erschütternd klar: Man zeigt mit dem Finger auf Gersch. Jetzt ist es offiziell, schwarz auf weiß festgeschrieben, was man von ihm zu halten hat. »Das verstehe ich nicht«, sagt Nina dennoch. Trotz allem, was dieser Kritiker zu Gerschs Komposition zu sagen hat, zu ihren vielen Mängeln, hat sie bei der Aufführung nichts als schöne Musik gehört.
    »Jeder hat natürlich ein Recht auf seine Meinung«, sagt Viktor.
    Nina bekommt plötzlich Angst davor, was dieser Artikel für Viktor bedeuten könnte, für seine Freundschaft mit Gersch. Die beiden kennen sich seit fast zehn Jahren. Nina weiß, wie sehr Viktor Gersch schätzt, seinen Witz, seine Intelligenz, seine unerschrockene Art. Er ist von Viktors Freunden der einzige, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt, und Nina vermutet, dass diese Respektlosigkeit Viktor ganz besonders zu ihm hinzieht, eine

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