Die Tänzerin im Schnee - Roman
Eigenschaft, die er selbst gern besäße. Auch spürt sie, dass Viktor Gerschs Kompositionen ehrlich bewundert, ohne Konkurrenzdenken und Neid.
Vielleicht können sie ja irgendetwas für Gersch tun. Zuspruch von öffentlichen Respektspersonen kann manchmal ein harsches Urteil revidieren helfen. Manchmal wiederum … schaufelt sich ein wohlwollender Fürsprecher sein eigenes Grab. Nina faltet die Zeitung zusammen, als könnte sie damit den Kritiker zum Schweigen bringen.
Als sie am selben Abend ihre Garderobe betritt, sieht sie gleich, dass Vera geweint hat.
»Es ist wegen Gersch«, sagt Vera unter Tränen, und Nina nimmt an, dass sie ebenfalls die Rezension in der
Prawda
gelesen hat. Vera verbringt inzwischen den Großteil ihrer Freizeit mit Gersch, und Nina weiß genau, was sie für ihn empfindet. Während der Aufführung seines neuen Stücks hat sie neben ihm gesessen und hinter der üblichen unbewegten Fassade offensichtlich für ihn mitgezittert. Und danach glühte ihr Gesicht vor Stolz, als der Applaus kein Ende nahm, als das Publikum im Gleichtakt beharrlich immer weiter klatschte und Gersch nach vielen Verbeugungen noch einmal auf die Bühne rief, wo er noch mehr Blumen überreicht bekam.
»Gestern Nachmittag, als unsere Probe früher aus war, habe ich ihn angerufen, um zu fragen, ob ich kurz vorbeikommen könnte. Er wirkte so glücklich, mich zu sehen, als ich kam, aber weißt du, was er gesagt hat? ›Hör mal, du solltest mir wirklich ein bisschen zeitiger Bescheid geben, wenn du kommst. Was, wenn gerade ein Mädchen hier wäre? Was sollte ich so schnell mit ihr machen?‹«
»Er will dich doch nur aufziehen, Verotschka.«
»Ich weiß.« Sie schüttelt den Kopf. »Es war ja nicht das erste Mal. Ich versuche sogar mitzuspielen. Gestern habe ich gesagt: ›Wie, dann ist also
kein
Mädchen bei dir?‹, und er sagte: ›Ich habe sie im Schrank versteckt, das arme Ding. Da siehst du mal, was du angerichtet hast.‹« Vera lacht müde. »Ich weiß ja, dass es dumm ist, deswegen zu heulen. Aber ich hoffe doch immer, dass er endlich damit aufhört. Es ist schwer, so zu tun, als würde es mir gar nichts ausmachen. Es verletzt mich eben.«
»Natürlich tut es das. Ich verstehe auch nicht, warum er so sein muss.« In dem Moment, wo Nina das sagt, fällt ihr ein, wie Viktor Gersch einen »Schwerenöter« genannt hat. Vielleicht hat er einfach seinen Stolz und will beweisen, wie ungebunden und frei er ist. Vielleicht tut er so, als würde Vera ihm gar nichts bedeuten, um sein altes Selbstbild zu retten. Denn eigentlich kann niemandem, der ihn in den letzten zwei Monaten mit Vera zusammen erlebt hat, entgangen sein, dass er ihr hoffnungslos verfallen ist.
»Was glaubst du denn, warum er sich so benimmt?«, fragt Nina.
»Aus Angst«, sagt Vera. »Ich glaube, wenn er so daherredet, will er sich davon überzeugen, dass er mir nicht so leicht in die Falle geht.«
»Das wird es sein.« Auch Nina spürt, dass sein Verhalten etwas mit Angst zu tun hat. Was sie nicht laut sagt, weil sie weiß, dass Vera es ohnedies schon begreift: dass es nicht die Angst vor die Liebe ist.
Der Dezember rückt heran, und mit ihm Stalins siebzigster Geburtstag und die zahllosen dazugehörigen Festivitäten. Mao Zedong unternimmt einen Staatsbesuch, und das Bolschoi hat zu dem Anlass eine Wiederaufnahme von
Der rote Mohn
angesetzt, der Geschichte von Tao-Chao, der Teehaustänzerin, die ihr eigenes Leben opfert, um das eines russischen Kapitäns zu retten. Vera sagt, die Ausstattung im Bolschoi sei viel luxuriöser als bei der Version des Kirow-Balletts.
Die Stadt ist für die Feierlichkeiten prachtvoll hergerichtet worden. Von den Häuserwänden flattern rote Fahnen und Spruchbänder, und auf den Plätzen laden hölzerne Bühnen zum Tanzen ein. Über dem Kreml schwebt, an Fesselballons aufgehängt, ein riesiges Stalinportrait, das den ganzen Roten Platz überstrahlt. Als Nina und Vera nach der Vorführung das Theater verlassen, um sich mit Viktor und Gersch zu treffen, schallt ihnen aus den Lautsprechern laute Musik entgegen, und überall um sie herum wird getanzt – Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. In dem Moment, da sie Viktor und Gersch mit ihren schmucken dunklen Hüten in der Menge entdeckt, fühlt sich Nina fast überwältigt vor Freude – über die klare, frische Luft und über ihre Liebe zu Viktor, die so groß ist wie der Himmel weit. Viktor und Gersch haben leuchtend rote Nasen, ob von der Kälte, vom Trinken oder
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