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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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seiner ersten Begegnung mit Vera auf ihre tieftraurigen Augen angesprochen hat, hat Nina ihm erklärt, Vera habe zwar während des Krieges aus Leningrad flüchten können, aber ihre gesamte Familie durch die Blockade verloren. Es war nicht ganz gelogen.
    Gersch, der Vera erst ein Mal getroffen hat, sagt: »Irgendwann ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich ganz vergessen hatte, dass du es bist. Du
warst
Odette, leibhaftig.« Vera hat sich auf der Bühne wirklich verwandelt, war halb Frau, halb Schwan, ein ätherisches Wesen; manchmal löste sich im Tanz eine Feder von ihrem Kostüm und fiel zu Boden, wie um ihre Zerbrechlichkeit und Angst noch mehr zu betonen. Als sie die Szene tanzte, in der sie und die anderen Mädchen verwünscht wurden, wirkten ihre flehentlichen Bewegungen ehrlich, kein bisschen aufgesetzt. Man brauchte nicht viel Phantasie, um zu begreifen, dass Siegfried ihr sofort verfallen musste. Wenn Vera mit einer Wange über ihr imaginäres Gefieder strich oder ihre unsichtbaren Flügel putzte, wirkte sie wahrhaftig vogelgleich und wie verzaubert und brachte es sogar fertig, ihren Rücken von einer Schulter zur anderen erbeben zu lassen, wenn sie in Bourrée-Schrittchen über die Bühne schwebte.
    »Und du«, sagt Viktor zu Nina, »ich muss es noch einmal sagen: Du warst atemberaubend.«
    Und tatsächlich hat das Publikum nach Luft geschnappt, als Nina ihre zweiunddreißig Fouettés hintereinander vollführt hat. Schon nach der Hälfte der Drehungen wurde der Applaus so laut, dass sie die Musik nicht mehr hörte und nur hoffen konnte, der Dirigent würde ihr folgen. Mit jeder peitschenden Beinbewegung wurde sie schneller und schneller, flog ihr der Schweiß von der Stirn und brannte ihr in den Augen, und dennoch landete sie sauber und präzise und hielt ihre Pose, bis sie im Stillen ruhig bis fünf gezählt hatte. Insgeheim jedoch findet Nina solche technischen Kunststücke billig. Sie sind beeindruckend, aber nicht subtil oder künstlerisch – reine Virtuosität, die auf Staunen und Applaus ausgerichtet ist. Nina will mehr als solche Tricksvollführen, sie will ihren Körper zum Singen bringen, will mit Augen und Händen und jeder kleinsten Neigung ihres Kopfes die Nuancen der Musik und die Facetten jeder Rolle voll auskosten, die sie spielt.
    Dennoch war es ein guter Auftritt. Sie hat es vom ersten Schritt auf die Bühne an gespürt, dass ihr Körper sie nicht im Stich lassen würde und dass das Publikum ihr zu Füßen lag.
    »Also, dann haben wir sogar mehrere Gründe zu feiern«, sagt Nina und erklärt Vera: »Viktors neues Buch hat begeisterte Kritiken bekommen.« Das staatliche Verlagshaus Gossisdat hat eine neue Gedichtsammlung von ihm herausgebracht, die in der
Iswestija
und der
Prawda
bejubelt worden ist.
    »Nun denn, erheben wir unser Glas«, sagt Gersch, indem er mit seinem gesunden Auge auf Vera und Nina blickt, »auf unsere beiden Pawlowas – und natürlich«, indem er sich Viktor zuwendet, »auf unsere nächste Annabelle Bucar!« Alle lachen; Annabelle Bucar ist die Autorin des neuen Verkaufsschlagers
Die Wahrheit über amerikanische Diplomaten
.
    »Jetzt will ich aber etwas ganz Ernstes loswerden«, sagt Nina. Sie wendet sich Viktor zu. »Ich liebe deine Gedichte. Natürlich habe ich das schon mehr als einmal gesagt, aber ich weiß eben nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.« Sie findet seine Werke wunderschön und unprätentiös, liebt die ungehemmte Freude, die seine Sprache durchdringt, und die Klarheit seiner Sätze. Die kurzen Verse und die lebhaften Bilder. »Ich bin sehr stolz auf dich.«
    »Ninulja«, sagt Gersch, »wir wollten doch dich und Vera hochleben lassen!«
    »Also bitte, Gersch, nun lass sie doch machen«, antwortet Viktor. Vera schenkt allen Wodka nach, erhebt ihr Glas und ruft: »Auf die Poesie!«
    Viktor tut, als wollte er ihr widersprechen: »Auf den Tanz!«
    Nina sieht lachend zu Gersch hinüber. »Auf die Musik!«
    Gersch hebt geheimnisvoll die Augenbrauen, hält einen Moment lang die Spannung und raunt: »Auf die
Liebe

    Als sie gerade ihre Gläser leeren, gerät die Musik plötzlich aus dem Takt. Die Musiker spielen durcheinander und aneinander vorbei, bis sie sich nach ein paar Augenblicken auf eine andere Melodie eingestimmthaben, ein amerikanisches Lied, das jeder kennt. Nina und die anderen schielen zur Tür hinüber. Das Lied bedeutet, dass Ausländer anwesend sind.
    Tatsächlich kommen gerade zwei fremdländische Pärchen zur Tür herein, die

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