Die Taeuschung
dagewesen. Sie war einer Einbildung
erlegen. Vermutlich würde sie demnächst den Verstand
verlieren, Stimmen hören, die gar nicht da waren, Schatten
sehen, Finger spüren, die nach ihr griffen ... Überspannt und
hysterisch hatte Stephane sie genannt, und vermutlich hatte er
damit recht.
Aber wenn doch jemand dagewesen war?
Eines war sicher: Den Gang würde sie nicht fertig putzen. In
dem Dämmerlicht sah man sowieso nicht, ob er ordentlich
gewischt war oder nicht.
Zu ihrem Entsetzen fing sie schon wieder an zu weinen.
4
Monique ging am Strand spazieren. So früh am Morgen war sie
noch nie dort gewesen, und es überraschte sie, wie schön es zu
dieser Tageszeit war. Die Luft klar und frisch, der Sand
unberührt, der Himmel hoch und wie gläsern. Die
Oktobersonne hatte sich am östlichen Horizont
hinaufgeschoben, vermochte aber noch keine Wärme in ihre
Strahlen zu legen. Es war kühl, auf eine angenehme, prickelnde
Art. Monique trug Jogginghosen und ein dickes Sweatshirt.
Normalerweise saß sie um diese Uhrzeit im Büro. Sonntags
verließ sie ihr Bett nicht vor halb elf, lungerte bis um drei Uhr
im Bademantel daheim herum und raffte sich dann manchmal –
eher selten – zu einem Spaziergang auf. Häufig führte aber ihr
Weg sie aus der Wohnanlage nur bis zu einem der Cafes an der
Uferpromenade, wo sie einen creme trank und aus etwas
verquollenen Augen – am Vorabend, einem der einsamen
Samstage, hatte sie meist zu tief ins Glas geschaut – den
Vorübergehenden hinterherblickte.
Doch zu dem neuen Leben, das sie sich verordnet hatte,
gehörten mehr Sport und weniger Zeit daheim. Sie würde jetzt
mindestens eine Stunde laufen. Vielleicht würde ihr dann auch
das Frühstück viel besser schmecken.
Sie schritt kräftig aus und hielt das Gesicht in die Sonne.
5
Nadine verließ das Haus durch die Hintertür. Auf leisen Sohlen
war sie die Treppe hinuntergehuscht, hatte Henri in der Küche
auf und ab gehen gehört. Wenn er dies tat, das wußte sie, legte
er sich Sätze und Argumentationen zurecht, bereitete eine Art
Rede vor, die er irgend jemandem zu halten gedachte. Im
Augenblick konnte eigentlich nur sie das Opfer sein – und sie
ahnte auch, was er ihr würde sagen wollen. Es würde um ihrer
beider Neuanfang gehen, um den Aufbruch ins Glück nach
überstandener Krise. Für Henri hatten sich die Dinge glänzend
gelöst; die Ereignisse der Vergangenheit mochten ihn noch
heftig schmerzen, aber er würde sie verdrängen, bis er mit
ihnen leben konnte. Er war ein schwacher Mann. Ein stärkerer
Mensch hätte ihr die Tür gewiesen und dann das
Scheidungsbegehren zustellen lassen. Er hätte nicht im Traum
daran gedacht, auch nur einen Tag länger mit ihr
zusammenzubleiben. Henri wußte, daß sie ihn jahrelang
betrogen hatte. Er wußte, daß sie drauf und dran gewesen war,
mit ihrem Geliebten fortzugehen. Wie konnte er ernsthaft an
eine gemeinsame Zukunft glauben?
Doch, Henri konnte, soviel wußte sie von ihm. Er konnte das
eher, als einen Schlußstrich unter ihre gemeinsame Geschichte
zu ziehen. Dies hätte Tatkraft und Mut erfordert, und beides
besaß er nicht. Er war ein Mann, der sich lieber mit einer
unguten Situation, deren Widrigkeiten ihm bekannt waren,
abfand, als sich in eine neue Situation zu begeben, deren
mögliche Widrigkeiten ihm unbekannt waren.
Nach der langen, schlaflosen Nacht, die hinter ihr lag, war
Nadine zu der Erkenntnis gelangt, daß Übererregung und
Entsetzen in ihr den Gedanken hatten aufkeimen lassen, Henri
könnte Peters Mörder sein. Als der Morgen dämmerte und sie
ruhiger wurde, als sie die Dinge wieder in ihren richtigen
Dimensionen zu sehen vermochte, begriff sie die Absurdität
dieser Verdächtigung. Henri konnte keiner Fliege etwas zuleide
tun. Ihn sich vorzustellen, wie er mit einem Messer auf einen
Widersacher losging, war einfach grotesk. Inzwischen
vermutete Nadine, daß tatsächlich ein Irrer in der Gegend
herumstreifte und wahllos Menschen ermordete und daß eine
grausame Tücke des Schicksals Peter zu einem seiner Opfer
hatte werden lassen – in einem Moment, da er sein und ihr
Leben hatte ändern wollen.
Sie ging die Straße entlang, kam zu dem kleinen Sandplatz,
auf dem Peters Auto gestanden hatte. Inzwischen war es auf
Veranlassung der Polizei abgeschleppt worden, wurde
vermutlich kriminaltechnisch untersucht. Sie betrachtete den
Ort, von dem sich seine Spur verloren, an dem sich auch ihr
Schicksal
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