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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Haltung
wiedergutzumachen.
    Doch auch beim zweiten Versuch meldete sich niemand.
Offensichtlich war er sehr früh schon aus dem Haus gegangen,
vielleicht machte er einen Spaziergang am Strand. Langsam
legte sie den Hörer wieder auf. Sie trat auf den Balkon hinaus,
blickte über das Tal, dessen herbstliche Farben im Licht der
Morgensonne erstrahlten. Am Horizont glitzerte blau und
spiegelnd das Meer.
Es würde ein traumhaft schöner Sonntag werden.
     
3
    Sie wußte, daß er wieder da war. Sie merkte es daran, daß sich
die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten und daß sich
ein komisches Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Vielleicht
hatte auch ein Luftzug sie gestreift. Mist, dachte sie erschöpft.
    Sie hatte Sonntagsdienst bei Berard, eine naturgemäß
ungeliebte Tätigkeit, aber an diesem Morgen war sie ihr
durchaus gelegen gekommen. Immerhin konnte sie dadurch
Stephanes schlechter Laune entgehen, die er seit dem Gespräch
am Vortag mit sich herumtrug. Sie fragte sich, weshalb er
eigentlich sauer war auf sie, denn schließlich hatte sie ihm
nichts getan, sie hatte ihm lediglich von ihren Sorgen und
Ängsten erzählt. Offenbar reichte dies, ihn zutiefst zu
verstimmen.
    Heute früh hatte sie gehofft, allein frühstücken zu können,
aber zehn Minuten nachdem sie in die Küche geschlichen war,
war er ebenfalls heruntergekommen. Im Verlauf des letzten
Jahres hatte sein Bauchumfang weiterhin stark zugenommen,
und sein speckiger Bademantel spannte.
    Wie häßlich er aussieht, hatte Pauline gedacht und sich eines
Gefühls von Abscheu nicht erwehren können, wie widerlich
und wie fett!
    So viele Emotionen hatte sie ihrem Ehemann noch nie
entgegengebracht, nicht im guten und nicht im schlechten Sinn.
Es erstaunte sie, was die augenblickliche Streßsituation in ihr
auslöste. Empfindungen, die sie nie gekannt hatte, wurden in
ihr wach. Leider waren sie von recht beunruhigender Natur.
    »Du hättest noch nicht aufstehen müssen«, hatte sie gesagt,
aber er hatte sie mißmutig angesehen und erklärt, es sei leider
unmöglich, zu schlafen, wenn jemand einen solchen Lärm
veranstalte wie sie. Er hatte seine Kaffeetasse genommen und
war aus der Küche geschlurft, und sie hatte überlegt, wann er
zuletzt ein wirklich liebevolles Wort zu ihr gesagt hatte.
Tatsächlich fiel ihr eine solche Gelegenheit nicht ein. Sie
dachte, daß sie die Zeiten, in denen sie über solche Dinge gar
nicht nachgedacht hatte, als wesentlich angenehmer empfunden
hatte.
    Und nun kniete sie bei Berard im düsteren Gang des alten
Klosters und wischte den Staub aus den Ecken, es war die
gleiche Situation wie neulich schon einmal, und sie meinte, er
sei da. Diesmal jedoch spürte sie seine Anwesenheit auf einer
subtileren Ebene. Sie konnte lediglich vermuten, ein Luftzug
habe sie gestreift, sicher war sie nicht. Sie registrierte nur ihre
starke körperliche Reaktion.
    Hysterisch, sagte sie sich, du bist komplett hysterisch.
Seitdem sie sich heute in diesem Gang zu schaffen machte,
wurde sie die Furcht nicht los. Immer wieder hatte sie sich
umgeschaut, immer wieder innegehalten und gelauscht. Einmal
war ein älteres Ehepaar aus einem der Räume gekommen,
gestiefelt und gespornt für einen Strandspaziergang; sie hatten
freundlich gegrüßt und das Hotel verlassen. Ansonsten rührte
sich die ganze Zeit über nichts.
Und dann, von einem Moment zum anderen, war es passiert;
ein urplötzlicher Adrenalinstoß versetzte ihren Körper in
Alarmzustand, und nach einem Moment der Fassungslosigkeit
und des erfolglosen Versuchs, die Panik, die sie spürte,
kleinzuhalten, sprang Pauline auf die Füße. Sie kam sich vor
wie ein Tier, dem ein Instinkt drohende Gefahr verkündet,
doch anders als ein Tier wußte sie nicht, wie sie darauf
reagieren sollte.
Sie lauschte in die Stille, und dann warf sie mit einer
entschlossenen Bewegung ihren Wischlappen auf den Boden
und marschierte den Gang entlang. Sie bog um die Ecke. Der
Raum vor der schweren Eichenholztür war leer.
Sie merkte, daß ihre Knie weich wurden. Sie sank auf die
unterste Stufe der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.
Gebannt starrte sie auf ihre zitternden Hände. Es gelang ihr
nicht, sie ruhig zu halten. Schließlich schob sie sie unter ihren
Po, blieb darauf sitzen und wartete, daß das Zittern verebbte,
aber schließlich stellte sie fest, daß das Beben in ihrem ganzen
Körper war, nicht bloß in ihren Händen.
Es war niemand

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