Die Taeuschung
entschieden hatte. Die Trauer um all die
Möglichkeiten, die ihr verloren gegangen waren, schmerzte
wie eine tiefe, frische Wunde, aber dahinter regte sich eine
Erkenntnis, von der sie bereits ahnte, daß sie sich hartnäckig in
ihr Bewußtsein schieben und vielleicht auch manche
Veränderung mit sich bringen würde: Ihr ganzes Leben hatte
auf Abhängigkeit gegründet, nie auf Eigenständigkeit und
Tatkraft, und vielleicht war dies der Grund dafür, daß sie nun
das Gefühl hatte, vollständig gescheitert zu sein. Sie hatte von
Glanz und Glamour in den Nobelorten der Côte d’Azur
geträumt und deshalb Henri geheiratet; in der Erwartung, er
werde ihr diesen Wunsch erfüllen. Und als sie merkte, daß sie
von ihm nicht bekommen würde, was sie wollte, hatte sie sich
an Peter geklammert, hatte gehofft, er werde ihr ein neues und
besseres Leben bescheren. Nun war Peter tot, und wieder
einmal hatte sich ein Mann als nicht verläßlich erwiesen.
Vielleicht hätten ihre eigenen Beine sie weitergebracht.
Direkt von dem kleinen Sandplatz aus führte ein steiler Pfad
durch wildes Dickicht hinunter zum Strand. Man mußte ihn
kennen, sehen konnte man ihn zwischen all dem Gestrüpp
nicht. Nadine machte sich vorsichtig an den Abstieg, zum
Glück hatte es nun schon seit Tagen nicht mehr geregnet, und
Erde und Laub unter ihren Füßen waren trocken. Der Weg
konnte rasch zu einer Schlitterpartie werden. Dornenranken
schlugen gegen ihre Beine, sie atmete herbstlichen
Modergeruch und fröstelte im Schatten der hohen Bäume.
Welch ein kalter und klarer Morgen, dachte sie.
Die Wildnis teilte sich plötzlich, und sie stand vor dem
Meer, das zusammen mit dem Himmel das sehr tiefe Blau des
Herbstes trug. Die Wellen rauschten mit einem leisen,
perlenden Geräusch, das an Sekt erinnerte, gegen den Strand.
Es war eine kleine Bucht, zu der aber auch im Sommer kaum
Badende kamen: Es gab keinen Sand hier, sondern nur
Kieselsteine, und fast niemand kannte den verwunschenen
Kletterpfad. Auf der anderen Seite des Strandes führte eine
Holztreppe hinunter, die jedoch zu einem Privatgrundstück
gehörte. Ansonsten ragten steile Felswände auf, die
unbegehbar waren.
Nadine setzte sich auf einen großen, flachen Stein, zog die
Beine eng an den Körper, schlang beide Arme darum. Sie hatte
sich viel zu dünn angezogen, es war merklich kälter als an den
Morgen davor, aber sie wollte keinesfalls zum Haus
zurückgehen und sich etwas zum Anziehen holen; die Gefahr,
dabei Henri in die Arme zu laufen, war viel zu groß.
Sie spürte eine so starke Nähe zu Peter an diesem Morgen,
daß sie den Eindruck gehabt hatte, ganz allein mit ihm sein zu
müssen. Es gab noch immer so viele unbeantwortete Fragen,
mit denen sie sich herumschlug, solche, die für sie vielleicht
wichtiger und entscheidender waren als die nach seinem
Mörder. Weshalb war er am Tag ihrer Verabredung noch
einmal im Chez Nadine aufgetaucht? Damit hatte er eindeutig
gegen die Absprache verstoßen. Drei Tage zuvor hatten sie
telefoniert, und er hatte gefragt, ob er zum Restaurant kommen
solle.
»Himmel, nein«, hatte sie mit einem nervösen Lachen
erwidert, »soll ich vor Henris Augen meine Koffer nehmen und
in dein Auto steigen?«
Daraufhin hatte er vorgeschlagen, sie solle in seinem
Ferienhaus auf ihn warten, aber auch das hatte sie abgelehnt.
»Es ist auch ihr Haus. Mit all ihren Sachen darin. Ich glaube
nicht, daß ich das aushalte.«
»O Gott, wo denn dann?« Seine Stimme hatte scharf
geklungen. Durch das Telefon konnte sie seine Anspannung,
das Vibrieren seiner Nerven spüren. Aber ihr selbst ging es ja
nicht anders. Sie waren beide dabei, aus ihrem bisherigen
Leben, aus ihren Ehen auszubrechen. Niemand würde dies
leichten Herzens und unbekümmert tun, und doch hatte sie das
deutliche Empfinden, daß nach wie vor er der unsichere
Kandidat war. Sie hatte seit Jahren auf diesen Moment
hingefiebert, und auch wenn ihr die Aufregung in der letzten
Woche manchmal fast die Luft abschnürte, hätte keine Macht
der Welt sie zum Umkehren bewegen können.
Sie erinnerte sich, einmal gedacht zu haben: Man müßte
mich schon töten ...
Und nun war Peter getötet worden, und die Konsequenz war
die gleiche.
Im nachhinein begriff sie, daß ihre Furcht, Peter könne im
letzten Moment aus dem gemeinsamen Boot aussteigen, nur
allzu berechtigt gewesen war. Denn nun, da alle Träume
geplatzt waren und sie die Wirklichkeit nicht mehr vor sich
selbst
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