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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Blieb sie zu lange wach im Bett liegen,
konnte sie allzu leicht ins Grübeln geraten, und das war
gefährlich. Am Schluß fing sie an zu weinen oder steigerte sich
in das ohnehin stets latent vorhandene Gefühl von Haß und
Verbitterung hinein und wußte dann kaum noch wohin mit
ihren aufgewühlten Emotionen.
    Sie hatte sich einen Kaffee gemacht und war, die Finger an
der Tasse wärmend, in ihrer Wohnung auf und ab gegangen,
von der Küche ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer, dann
wieder in die Küche. Das Bad hatte sie gemieden. Cathérine
haßte das Bad in dieser Wohnung. Es erinnerte sie an eine Art
hohe, enge Schlucht, in die von irgendwoher ganz weit oben
ein Streifen fahles Licht einsickerte. Der Boden bestand aus
kalten, grauen Steinfliesen, in die der Schmutz ganzer
Generationen von Bewohnern eingedrungen war und sich nicht
mehr entfernen ließ. Die blaßgelben Kacheln, die einen
knappen Meter hoch die Wände ringsum bedeckten, hatten
abgeschlagene Ecken, und in eine Kachel, gleich neben dem
Waschbecken, hatte irgendeiner von Cathérines Vorgängern
ein aggressives Fuck you eingeritzt. Cathérine hatte versucht,
direkt darüber einen Handtuchhalter anzubringen, um die
Obszönität mit ihrem Badetuch zu verdecken, aber der Haken
war nach zwei Tagen herausgebrochen, und das nun in der
Wand gähnende Loch machte die Sache nicht besser.
    Das Fenster befand sich so weit oben, daß man auf die
Toilette steigen mußte, um es zu öffnen. Stand man am
Waschbecken vor dem Spiegel, dann fiel das Licht von dort in
einem höchst ungünstigen Winkel auf das Gesicht. Man sah
immer hoffnungslos grau und elend aus und Jahre älter, als
man tatsächlich war.
    Der Spiegel war es auch, der Cathérine an diesem Morgen
das Bad meiden ließ. Mehr noch als die atemberaubende
Häßlichkeit des Raums machte ihr heute ein Blick auf das
eigene Gesicht zu schaffen – wie an vielen anderen Tagen
allerdings auch. In der vergangenen Woche hatte sie sich noch
ein wenig besser gefühlt, aber in der letzten Nacht war sie
aufgewacht von einem Brennen im Gesicht, ein Gefühl, als sei
nicht ihr Körper, aber ihre Haut von einem Fieber befallen. Sie
hatte leise ins Kissen gestöhnt, hatte sich mühsam beherrscht,
nicht die Fingernägel ihrer beider Hände in ihre Wangen zu
schlagen und sich in ihrer Verzweiflung die Haut von den
Knochen zu fetzen. Es war wieder losgegangen. Warum
eigentlich hoffte sie immer wieder in den Phasen der Ruhe, die
Krankheit habe sie dieses Mal endgültig verlassen, sei zum
Erliegen gekommen, habe beschlossen, sich mit dem zu
begnügen, was sie bereits angerichtet hatte? Gott – oder wer
auch immer dahintersteckte – könnte den Spaß verlieren,
könnte endlich zufrieden sein mit seinem Werk der Zerstörung
und sich einem neuen Opfer zuwenden. Die Hoffnung hatte
sich noch jedes Mal als trügerisch erwiesen. Im Abstand von
wenigen Wochen – im Höchstfall mochten es zwei oder drei
Monate sein – brach die Akne über Nacht aus; heimtückisch
verschonte sie Rücken, Bauch und Beine und konzentrierte
sich ganz auf Gesicht und Hals, tobte sich dort aus, wo es für
Cathérine keine Möglichkeit gab, die häßlichen eitrigen Pusteln
zu verstecken. Sie blühte einige Tage lang und ebbte dann
langsam ab, hinterließ Narben, Krater, Erhebungen, Rötungen
und undefinierbare Flecken. Cathérine litt seit ihrem
dreizehnten Lebensjahr unter der Krankheit, und heute, mit
zweiunddreißig Jahren, sah ihr Gesicht aus, als sei sie Opfer
eines grausamen Anschlags geworden. Sie war entstellt, auch
in den Phasen, in denen die Akne ruhte.
    Mit dicken Schichten von Make-up und Puder konnte sie sie
dann jedoch wenigstens notdürftig tarnen. Im Akutzustand
hatte das keinen Sinn und verschlimmerte alles nur noch.
    Das Jucken in ihrem Gesicht und die engen Wände ihrer
düsteren, alten Wohnung machten sie bald so nervös, daß sie
beschloß, trotz allem hinauszugehen und in einem Cafe an der
Hafenpromenade zu frühstücken. Ihre Wohnung – in einer der
engen, dunklen Gassen der Altstadt von La Ciotat gelegen –
war von so bedrückender Atmosphäre, daß sie es manchmal
kaum mehr ertragen konnte. Im Sommer, wenn das Land in der
Hitze stöhnte, mochten jedoch Schatten und Kühle dort noch
angenehm sein. Im Herbst und Winter herrschte eine
Stimmung tiefster Depression.
    Sie zog einen leichten Mantel an und schlang einen Schal um
den Hals, zog ihn dann hinauf und versuchte, Kinn

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