Die Taeuschung
enttäuscht, das weiß ich. Ich war zu schwach. Du
ahnst nicht, wie oft ich wünsche und gewünscht habe ...«
»Was? Alles anders gemacht zu haben?«
»Nein. Als der Mensch, der ich bin, hätte ich es nicht anders
machen können. Schwäche ist ein Teil meines Lebens, meines
Charakters, meiner Wesensstruktur. Mein Wünschen geht
daher viel weiter. Ich wünschte, ich wäre ein anderer Mensch.
Nicht Henri Joly aus La Ciotat. Sondern ... ich weiß nicht ...
Jean Dupont aus Paris!«
»Wer ist Jean Dupont aus Paris?«
»Ich habe ihn eben erfunden. Jean Dupont ist Manager in
einer großen Firma. Er ist ehrgeizig und ziemlich skrupellos,
ein knallharter Verhandler, eher gefürchtet als geliebt, aber
jeder versucht sich bei ihm einzuschmeicheln. Er sitzt im
Vorstand, und allgemein werden ihm gute Chancen
eingeräumt, irgendwann den Vorstandsvorsitz zu übernehmen.
Wie findest du Jean?«
Cathérine lächelte, und diesmal war ihr Lächeln weich,
verlieh ihrem Gesicht einen Ausdruck, der etwas davon verriet,
wie sie hätte aussehen können ohne die Krankheit und ohne die
tiefe Bitternis in ihren Zügen: Sie hätte eine aparte Frau sein
können, und vielleicht wären den Menschen ihre schönen
Augen aufgefallen.
»Ich mag Jean nicht«, sagte sie, »im Gegenteil, ich glaube, er
ist mir sogar zutiefst unsympathisch. Das mag daran liegen,
daß mir Henri so sehr ans Herz gewachsen ist und daß ich ihn
um nichts anders haben möchte, als er ist.«
Henris Kaffee wurde unaufgefordert gebracht. Wie immer
trank er ihn schwarz, ohne Milch und Zucker. Cathérine wußte
seit Jahren, wie er seinen Kaffee mochte: sehr stark und sehr
bitter. Manchmal träumte sie davon, wie es wäre, ihm seinen
Kaffee morgens zu kochen, mit ihm am Frühstückstisch zu
sitzen, ihm seine Tasse einzuschenken. Sie hätte ihm sein
Baguette aufgeschnitten, Butter und Honig darauf gestrichen.
Er liebte Honig-Baguette. Auch diese Vorliebe kannte sie.
Er griff den Satz auf, den sie zuletzt gesagt hatte. »Dieser
Henri, den du nicht anders haben möchtest ... er hat dich tief
enttäuscht ...«
Sie wehrte sofort ab, benutzte unwillkürlich seine zuvor
geäußerten Worte. »Ich möchte nicht darüber reden. Bitte
nicht!«
»In Ordnung.« Er trank mit wenigen Schlucken seinen
Kaffee, schob dann die Tasse zurück, legte ein paar Francs auf
den Tisch und stand auf. »Wir sehen uns nachher? Ich danke
dir, Cathérine.« Flüchtig strich er ihr über die Haare, ehe er die
Kneipe verließ. Die Mutter in der anderen Ecke starrte hinter
ihm her. So, wie alle Frauen immer hinter ihm hergestarrt
hatten.
Und ich, dachte Cathérine voller Trostlosigkeit, habe
wirklich einmal geglaubt, er würde mich heiraten.
3
Nadine bereute es bereits zehn Minuten nach ihrer Ankunft,
daß sie zu ihrer Mutter gefahren war. Wie üblich fühlte sie sich
nicht besser, sondern schlechter, und sie fragte sich, weshalb
sie einen Fehler, den sie kannte, mit solcher Beharrlichkeit
wiederholte.
Allerdings war sie an diesem Tag vielleicht auch nicht
wirklich zurechnungsfähig. Es war klar, daß sie etwas
Unüberlegtes hatte tun müssen. Womöglich hätte ihr sogar
Schlimmeres passieren können, als im trostlosen Haus ihrer
Mutter zu landen.
Wie oft hatte sie schon auf sie eingeredet, aus dem abseits
gelegenen kleinen Haus in Le Beausset auszuziehen. Was hielt
sie nur in dem verfallenen Schuppen, der allmählich völlig
zugewuchert wurde von der Wildnis des riesigen Gartens. Das
Haus lag in einer Art Schlucht, von seinen Fenstern aus hatte
man keinen anderen Blick als den auf die hohen, steilen Felsen,
die in den Himmel ragten und jede weitere Sicht verhinderten.
Die Schlucht war zudem dicht bewaldet und selbst an klaren
Hochsommertagen von einer beklemmenden Düsternis. An
einem verregneten Herbsttag wie diesem erreichte die
Trostlosigkeit den Höhepunkt.
In der Küche war es kalt, und es roch nach irgendeiner
verdorbenen Speise. Nadine behielt ihre warme Jacke an, grub
sich immer tiefer in sie hinein und konnte doch nicht aufhören
zu frieren. Die uralten steinernen Mauern schirmten im
Sommer so erfolgreich die Sonnenhitze ab, daß es immer
feucht und dunkel im Inneren des Hauses blieb. Im Herbst und
im Winter hätte der große steinerne Kamin in der Wohnküche
stets beheizt sein müssen, damit sich die Bewohner
einigermaßen wohl hätten fühlen können. Aber schon in
Nadines Kinderzeit war dies selten der Fall gewesen. Ihr Vater
war wegen
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