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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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würde sie
demnächst ohnehin Dinge hören und sehen, die gar nicht da
waren. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß langsames
Verhungern und Verdursten von immer heftigeren
Wahnvorstellungen begleitet werden. Und inzwischen war ihr
klar, daß ihr Entführer genau dieses Ende für sie vorgesehen
hatte.
Als sie das Regal erreichte, begann sie, genau wie beim
letztenmal, in den Fächern zu tasten. Es dauerte eine ganze
Weile, bis ihre Finger einen Gegenstand umschlossen, aber bei
genauerem Fühlen stellte sie fest, daß sie an eine
Konservendose geraten war. Keine Chance, sie zu öffnen. Sie
unterdrückte eine jähe Panik, die sich ihrer bemächtigte. Wenn
sie das einzige Einmachglas erwischt hatte! Wenn es sonst nur
Konserven gab! Dann konnte sie jegliche Hoffnung sofort
begraben.
Such weiter, befahl sie sich, und behalte um Himmels willen
die Nerven.
Sie stöberte und tastete, und die ganze Zeit über wurde ihr
Durst immer heftiger, und ständig mußte sie an eine Coladose
denken, die, beschlagen von Kälte, aus einem Kühlschrank
genommen wurde und an deren Seite langsam ein Tropfen
hinunterperlte. Trinken, trinken, trinken. Wie gedankenlos war
sie früher damit umgegangen, hatte Wasserflaschen einfach
weggekippt, weil sich die Kohlensäure nicht gehalten hatte,
und manchmal hatte sie einen halben Tag lang gar nichts
getrunken, weil sie zu faul gewesen war, in die Küche zu
gehen. Aber da war die Gewißheit gewesen, daß es nur eines
Handgriffs bedurfte, und sie hätte Wasser und Cola und
Limonade im Überfluß zur Verfügung gehabt. Und nicht im
Traum wäre ihr jemals der Gedanke gekommen, in eine
Situation zu geraten, in der sie Kondenswasser von den
Wänden geleckt hätte, hätte es welches gegeben.
Sie fand ein Glas, zerrte mit zitternden Fingern an dem
Gummi, der es verschloß. Lieber Gott, keine Essiggurken,
bitte! Laß es Obst sein. Obst mit ganz viel Saft!
Noch nie hatte sie echte, verzweifelte Gier erlebt. Gier, die
den Körper beben, das Herz jagen, die Ohren rauschen läßt.
Ihr Mund war mit Staub gefüllt. Er war heiß und trocken. Ihr
Hals brannte, ihr Körper glühte.
Der Gummi löste sich, schnellte irgendwohin in die
Dunkelheit. Der Glasdeckel entglitt ihren bebenden Fingern
und zerbrach auf dem Fußboden. Für den Moment war ihr die
Gefahr, die sich aus den herumliegenden Scherben ergeben
mochte, gleichgültig. Über diese Dinge konnte sie später
nachdenken, später, wenn sie ihr Überleben gesichert hatte.
Es waren Pfirsiche. Irgend jemand in diesem Haus, vielleicht
der Mörder selbst, hegte eine Vorliebe für Pfirsiche, und sie
hätte heulen mögen vor Dankbarkeit dafür. Sie trank in großen,
durstigen Zügen und schob zwischendurch die saftigen, süßen
Scheiben in den Mund.
Wenn ich hier rauskomme, dachte sie plötzlich, dann möchte
ich ein kleines Häuschen mit einem Garten. Irgendwo weit
draußen auf dem Land. Ich möchte einen Pfirsichbaum haben
und noch ganz viel anderes Obst und Hühner und Katzen.
Sie wußte nicht, wieso ihr dieses idyllische Bild gerade jetzt
durch den Kopf schoß, aber es erfüllte sie mit Kraft. Es war ein
so schöner Lebensplan.
Sie mußte durchhalten, um ihn verwirklichen zu können.
6
    Es erstaunte Henri nicht, seine Schwiegermutter morgens um
neun Uhr noch in Nachthemd und Bademantel anzutreffen. Er
hatte an die Tür geklopft und war auf ihr Herein! in die Küche
getreten, in die man unmittelbar durch die Haustür gelangte.
Sie saß am Tisch und hatte eine leere Kaffeetasse vor sich, mit
der sie herumspielte. Auf dem Tisch befanden sich eine
Zuckerdose, ein Päckchen Toastbrot und ein halbleeres Glas
mit Erdbeermarmelade. Es sah nicht so aus, als habe sie irgend
etwas davon angerührt, ebensowenig schien eine zweite Person
hier gefrühstückt zu haben. Das elektrische Licht brannte, was
die Düsterkeit des engen Bergtals noch hervorhob.
    Nun, da seine Sinne geschärft, sein Gemüt sensibilisiert war,
begriff Henri erstmals, weshalb Nadine so gelitten hatte in
diesem Haus, und ihm ging auch auf, daß hier die Ursache für
manches Problem lag, das später ihre Ehe so belastet hatte.
    »Guten Morgen, Marie«, sagte er. Er trat zu ihr hin und
küßte sie auf beide Wangen. Er hatte sie sehr lange nicht
gesehen und war erschrocken, wie mager sie war und wie kalt
sich ihr Gesicht anfühlte. »Ich hoffe, ich störe nicht?«
    Sie lächelte. »Wobei solltest du stören? Sieht es aus, als sei
ich sehr

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