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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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seiner zahllosen außerehelichen Affären fast nie
dagewesen, und ihre Mutter hatte lamentiert und gehadert und
war meist zu überfordert gewesen, um sich auch noch um eine
Nebensächlichkeit wie ein Feuer im Ofen zu kümmern. Nadine
hatte bereits mit zwölf Jahren beschlossen, daß sie ihre Familie
so schnell wie möglich verlassen wollte.
    Auch heute sah sie sich wieder um und dachte voller
Bitterkeit: So dürfte man ein Kind nicht aufwachsen lassen.
Marie Isnard trat mit der Kaffeekanne an den Tisch. »Hier,
Kind. Das wird dir guttun.« Sie musterte ihre Tochter besorgt.
»Du siehst sehr blaß aus. Hast du überhaupt geschlafen in der
letzten Nacht?«
»Nicht so gut. Vielleicht liegt es am Wetter. Ich habe immer
Probleme, wenn der Sommer in den Winter übergeht. Ist nicht
meine beste Zeit.«
»Heute ist es besonders häßlich«, meinte Marie. Sie war im
Bademantel, Nadine hatte sie noch im Bett angetroffen. »Mit
Henri ist doch aber alles in Ordnung?«
»Es ist langweilig wie immer.«
»Na ja, nach fünfzehn Jahren ... da ist keine Beziehung mehr
aufregend.«
Marie setzte sich ebenfalls an den Tisch, schenkte sich und
ihrer Tochter Kaffee ein. Sie hatte sich weder gewaschen noch
gekämmt und sah nicht aus wie fünfzig, sondern wie Mitte
sechzig. Um die Augen herum war sie stark verquollen, doch
Nadine wußte, daß ihre Mutter nie Alkohol anrührte und daß
die hängenden Lider und die dicken Tränensäcke nicht von
derlei Ausschweifungen herrühren konnten. Marie mußte
wieder einmal stundenlang geweint haben. Sie würde sich
eines Tages noch einmal die Augen aus dem Kopf weinen.
»Mutter«, sagte Nadine, »warum gehst du nicht endlich fort
aus diesem Haus?«
»Darüber haben wir schon so oft gesprochen. Ich lebe jetzt
seit über dreißig Jahren hier. Warum sollte ich mich noch
verändern?«
»Weil du mit fünfzig Jahren keine alte Frau bist, die sich in
einer Einöde verkriechen sollte. Du könntest noch so viel aus
deinem Leben machen.«
Marie fuhr sich mit den gespreizten Fingern ihrer linken
Hand durch die Haare. Ihre kurz geschnittenen, fast schwarzen
Locken standen wie ein Staubwedel in die Höhe. »Schau mich
doch an! Was sollte ich denn noch aus meinem Leben
machen?«
Tatsächlich war sie noch immer eine recht attraktive Frau,
dies verbargen nicht einmal ihre schlampige Aufmachung und
die verschwollenen Augen. Nadine wußte, daß ihre Mutter,
Weinbauerntochter aus Cassis, einst als eines der schönsten
Mädchen der Gegend gegolten hatte, und dies, wie Photos
bewiesen, zu Recht. Sinnlich, lebensfroh, tatkräftig und
ungeheuer strahlend. Kein Wunder, daß sich der ebenso
sinnenfrohe und begehrte Michel Isnard in sie verliebte und sie
schwängerte, als sie kaum siebzehn war. Auf das heftige
Betreiben von Maries Vater heirateten die beiden und mußten
sodann für sich und Baby Nadine eine Bleibe suchen.
Nadine verzieh es ihrem Vater später nie, daß er sich zu
dieser Zeit plötzlich ein romantisches, altes Gemäuer in der
Einsamkeit in den Kopf gesetzt hatte. Marie erzählte immer, er
habe auf einmal nur noch von einem großen Stück Land
geschwärmt, von Ziegen und Hühnern und einem Haus, das
den Charme lang vergangener Zeiten atme ...
So waren sie an die Bruchbude in Le Beausset gekommen,
und Michel hatte verkündet, er werde den Innenausbau in
Eigenarbeit übernehmen und ihnen ein gemütliches, schönes
Zuhause schaffen. Es blieb im wesentlichen bei der
Absichtserklärung. Michel hatte sich noch nie für körperliche
Arbeit begeistern können. Intensiver denn je kümmerte er sich
um sein kleines Antiquitätengeschäft in Toulon, war den
ganzen Tag fort und schließlich auch die halben Nächte, und
Nadine begriff erst nach Jahren, daß er sich in den späten
Stunden vorwiegend attraktiven, jungen Touristinnen widmete,
durch Kneipen, Diskotheken und Betten zog. Zu jener Zeit fing
Marie an, nachts ihre Kissen naß zu weinen, und in gewisser
Weise hörte sie damit nie wieder auf. Sie kümmerte sich um
den unüberschaubar großen Garten, um die Hühner und
Ziegen, die sich Michel so dringend gewünscht hatte, und um
das kleine Mädchen, dessentwegen sie mit Anfang zwanzig
bereits in einer unglücklichen Ehe festhing und anfing,
verhärmt auszusehen.
Sie hatten kein fließendes Wasser im Haus, keinen Strom
und nur ungenügend schließende Fenster. Michel hatte
begonnen, ein Badezimmer anzulegen, war der Arbeit jedoch
auf halbem Wege überdrüssig

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