Die Taeuschung
Laura eingehen zu müssen. »Als ich sie zuletzt sah, war sie
gerade geboren.«
So lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen, dachte
Laura.
»Sie Ärmste«, sagte sie, »Sie müssen also sogar am Sonntag
arbeiten?«
»Bei dem Wetter ist es vielleicht das Vernünftigste«, meinte
Melanie.
Laura wußte, daß ihr Mann sie vor knapp drei Jahren wegen
einer anderen Frau verlassen hatte, daß sie darüber nicht
hinwegkam und sehr einsam war. Wie mochte solch ein
verregneter Sonntag für sie aussehen?
»Na ja«, sagte Laura schließlich und nahm Sophie auf den
Arm. »Wir beide sehen dann mal zu, daß wir nach Hause
kommen.« Offenbar konnte Melanie ihr sowieso nicht helfen.
»Die Kleine muß unbedingt ins Bett.« Ihr fiel noch etwas ein,
und sie machte eine Kopfbewegung zum Schreibtisch hin. »Ich
habe einen ganzen Berg unbezahlter Rechnungen gefunden.
Könnten Sie sich darum kümmern? Sonst steht, fürchte ich, in
ein paar Tagen der Gerichtsvollzieher hier.«
Sie wußte nicht genau, was sie erwartet hatte. Irgendeine
zustimmende Bemerkung, was Peters Schwäche anging, und
darauf die Zusage, sich um die Erledigung der Angelegenheit
zu kümmern.
Stattdessen schärfte sich von einem Moment zum anderen
Melanies leerer Blick. Sie starrte Laura an, und ihre Augen
waren plötzlich dunkel vor Wut.
»Wovon soll ich das bezahlen?« stieß sie hervor. »Können
Sie mir verraten, wovon?«
Laura schwieg. Melanie schwieg. Sophie hatte aufgehört zu
brabbeln. Es war nichts zu hören als das Rauschen des Regens
jenseits der Fenster.
»Was?« fragte Laura endlich mit heiserer Stimme, und ein
Teil von ihr begriff, was die andere gerade gesagt hatte,
während ein anderer sich weigerte, zu verstehen.
»Was?« wiederholte sie.
Melanies Gesicht verschloß sich erneut, sie sah aus, als
nähme sie gern zurück, was sie soeben gesagt hatte. Doch dann
schien sie einzusehen, daß es dafür zu spät war. Sie ließ die
Arme hängen und stand da wie jemand, der aufgibt.
»Ach, was soll’s«, sagte sie, »es ist ja nun gleich. Früher
oder später erfahren Sie es sowieso. Ich bin heute nicht
hierhergekommen, um zu arbeiten. Ich wollte meine
persönlichen Sachen holen. Ich werde mir eine andere Arbeit
suchen müssen, aber ich wollte meinen Abgang so unauffällig
wie möglich gestalten, weil die beiden anderen
Mitarbeiterinnen noch nichts wissen. Ich wollte nicht diejenige
sein, die es ihnen sagt. Das ist Sache des Chefs.«
»Die ihnen was sagt?« fragte Laura mit belegter Stimme.
»Wir sind pleite«, antwortete Melanie. Sie klang
teilnahmslos, aber ihre Augen verrieten, wie tief getroffen sie
war. »Die Firma ist absolut am Ende. Die Mahnungen, die Sie
gefunden haben, sind nicht Zeichen von Schlamperei, sie sind
schlicht ein Zeichen von Zahlungsunfähigkeit. Ich habe schon
seit zwei Monaten kein Gehalt mehr bekommen, und ich weiß,
daß die beiden anderen für diesen Monat auch nichts mehr
kriegen. Ich wollte Peter die Treue halten, aber ... ich muß ja
auch leben. Ich bin mit der Wohnungsmiete im Rückstand. Mir
bleibt keine Wahl mehr.«
»Guter Gott«, flüsterte Laura. Sie ließ Sophie wieder auf den
Boden sinken, lehnte sich selbst gegen die Schreibtischkante.
»Wie schlimm steht es denn?«
»Schlimmer, als Sie es sich vermutlich vorstellen können. Er
hat alles belastet. Sein gesamtes Eigentum. Die Banken hetzen
ihn seit Wochen.«
»Sein gesamtes Eigentum? Heißt das ... auch unser Haus?«
»Die beiden Häuser – auch das in Frankreich – hätte er sich
gar nicht leisten dürfen. Er kann die Bankkredite nicht tilgen,
mußte für die Zinszahlungen neue Kredite aufnehmen ... Ich
glaube, es gibt keinen Dachziegel und keine Fensterscheibe bei
Ihnen, die nicht verpfändet sind. Und dazu kam dann noch ...«
Sophie gluckste fröhlich. Laura mußte sich mit beiden
Händen am Schreibtisch festhalten.
»Was kam noch dazu?« fragte sie.
»Aktienkäufe, mit denen er sich meist verspekuliert hat.
Immobilien im Osten, die sich dann nicht vermieten ließen, die
kein Mensch ihm abkaufen wollte, die jetzt leer stehen und
noch nicht abbezahlt sind. Er hat sich von jedem Idioten
sogenannte erstklassige Investitionen einreden lassen, hielt sich
immer für einen besonders cleveren Geschäftsmann. Aber ... na
ja ...«
»Wissen Sie, was Sie da sagen?« fragte Laura.
Melanie nickte langsam. »Es tut mir leid. So hätten Sie das
nicht erfahren sollen. Von mir schon gar nicht. Ich war ja die
einzige, die
Weitere Kostenlose Bücher