Die Taeuschung
habe sie nicht angerufen. Und das ist es,
was mir jetzt so schwer zu schaffen macht. Verstehen Sie? Ich
denke dauernd: Vielleicht war er es! Vielleicht hat er sie
umgebracht aus Wut, weil sie ihn nicht angerufen hat. Oder
weil sie – nach seiner Ansicht – einfach seinen Anruf ignoriert
hat. Vielleicht habe ich mich auf furchtbare Weise schuldig
gemacht!«
»Warum haben Sie ihr denn nichts gesagt?« fragte Monique
mit betont sachlicher Stimme, denn sie fürchtete, Jeanne
könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Jeanne hatte den Gesichtsausdruck eines kleinen, hilflosen
Mädchens. »Ich dachte ... ich hatte Angst, sie könnte böse
werden. Sie hat mir nie gesagt, daß ich ihren Anrufbeantworter
abhören soll. Am Ende hätte sie es als einen
Vertrauensmißbrauch empfunden. Ich hätte ihre Freundschaft
verloren ... ach, ich war einfach völlig unsicher. Schließlich
notierte ich die Nummer, die der Mann genannt hatte, und
löschte den Text.«
»Wieso mußten Sie ihn gleich löschen?«
»Weil man sonst gesehen hätte, daß ich ihn abgehört hatte.
Das rote Licht leuchtet dann noch, blinkt aber nicht. Camille
hätte das nach ihrer Rückkehr bemerkt. Löschen schien mir die
einzige Möglichkeit zu sein.«
Monique dachte, daß Jeanne tatsächlich ziemlich unreif war.
Ihr ganzes Verhalten erinnerte an ein Kind, das, ohne länger
nachzudenken, nur bemüht ist, die Spuren eines Fehlverhaltens
zu vertuschen. Mit ihrer Unfähigkeit, souverän mit der
Situation umzugehen, hatte sie womöglich die Chance
verspielt, das Unglück zu verhindern. Was sie allerdings nicht
hatte ahnen können. Das Geschehene lag außerhalb alles
Vorstellbaren.
»Ich finde einfach keine Ruhe mehr«, sagte Jeanne. »Ich
kann nachts nicht schlafen, ich muß immer darüber
nachdenken, was ich getan habe. Schließlich dachte ich, ich
muß mit jemandem reden, der hier unten lebt, der sie in jenen
Sommerwochen vielleicht gesehen hat, der womöglich weiß,
ob sie und dieser Mann einander getroffen haben ... jemand,
der mich hoffentlich von der Vorstellung befreien kann, daß
der unterschlagene Anruf den Beginn der Tragödie darstellt.
Das Schlimmste ist, daß ich hier niemanden kenne. Einzig eine
Nachbarin namens Isabelle hat Camille ein paarmal erwähnt,
aber schon den Nachnamen oder die Adresse kannte ich nicht.
Also konnte ich keine Telefonnummer ermitteln und sie
anrufen. Deshalb bin ich hierhergereist.«
Dies fand Monique nun wiederum recht rührend. Jeanne
nahm ihren einmal begangenen Fehler keineswegs auf die
leichte Schulter, »Die Adresse von Camilles Haus kannte ich,
das Haus, das sie als nächsten Nachbarn bezeichnet hatte, war
leicht zu ermitteln. Isabelle war nicht da, nur ihr Mann. Ich war
verzweifelt, ich sagte, ich müsse jemanden sprechen, der
Camille näher gekannt hat. Isabelle kommt aber erst morgen
abend zurück, sie ist bei ihrer Schwester in Marseille. Da
nannte er mir Ihren Namen und Ihre Adresse.« Jeanne atmete
tief. »Und da bin ich nun.«
Wenn es einen Mann in Camilles Leben gegeben hatte, und
sei es eine vorübergehende Geschichte gewesen, so hatte
Monique davon nichts mitbekommen, und sie war erstaunt, wie
traurig sie dies plötzlich stimmte. Camille hatte sie tatsächlich
nicht im mindesten in ihre Nähe gelassen.
»Es tut mir leid, Jeanne«, sagte sie, »aber ich habe nichts von
der Existenz dieses Mannes gewußt. Camille hat mir nichts
erzählt, und ich habe sie nie mit jemandem gesehen.«
»Überlegen Sie«, drängte Jeanne, »Sie haben saubergemacht
bei ihr. Und da war nie ein Mann? Nie irgendwelche Utensilien
eines Mannes? Eine weitere Zahnbürste, eine Rasierklinge,
Socken, die nicht Camille gehört haben können ... irgend
etwas. Normalerweise hinterläßt doch jeder Mensch immer
Spuren.«
Monique überlegte, schüttelte aber schließlich den Kopf.
»Ich habe nichts wahrgenommen. Jedenfalls nicht bewußt. Sie
müssen ja auch bedenken, welch ein Mensch Camille war:
diskret bis zur völligen Tarnung all dessen, was sich in ihrem
Leben abspielte. Sie wollte doch nie, daß irgend jemand
erfährt, was in ihr vorgeht oder was sie gerade beschäftigt.
Außerdem hat sie Ihnen selbst erzählt, daß sie Schuldgefühle
wegen ihres verstorbenen Mannes hatte. Ich denke, es wäre ihr
sehr unangenehm gewesen, wenn ich beispielsweise bemerkt
hätte, daß sie eine neue Beziehung führte. Ich hätte das nur
normal und kein bißchen verwerflich gefunden, aber sie dachte
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