Die Taeuschung
jeder irgendwann
einmal. In diese furchtbare Situation, in der nichts mehr
Bestand hat. In der es kein Gefüge mehr gibt. Nichts mehr,
woran man sich festhalten kann.«
»Ich weiß. Dir ist es nicht anders ergangen.«
»Du trauerst jetzt. Du bist verstört, ratlos, verzweifelt. Aber
es ist wichtig, irgendwann wieder auf das Leben zuzugehen. Es
unbefangen anzuschauen. Ohne Bitterkeit und Schmerz. Dann
werden andere Menschen dir entgegenströmen. Du wirst einen
neuen Weg finden. Du wirst die Kraft haben, ihn zu gehen.«
»Ist das deine Erfahrung?«
»Noch nicht. Aber ich glaube dennoch ganz fest daran. La
vie continue. Das ist einfach so.«
»Es ist spät. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit
vergangen ist.«
»Zehn Uhr.«
»Ich bin schrecklich müde. Es war schön, daß du da warst.
Danke, daß du für mich gekocht hast.«
»Ich habe es gern getan. Ich ... ich fühle mich irgendwie
auch so schuldig an dem, was Peter dir angetan hat. Ich möchte
dir wirklich helfen. Bitte ruf mich an, wenn du mich brauchst.
Zum Reden oder Spazierengehen oder wozu auch immer. Ja?«
»Gern. Danke, Christopher.«
»Gute Nacht, Laura.«
Samstag, 13. Oktober
1
Nadine hoffte, daß Cathérine zu Haus sein und sie einlassen
würde. Sie stand vor dem schäbigen Haus in der düsteren
Gasse und hatte schon zweimal die Klingel neben Cathérines
Namensschild gedrückt. So viele Jahre lang war sie nicht mehr
hier gewesen, daß sie sich gar nicht sofort zurechtgefunden
hatte. Sie hatte ihren Wagen am Hafen geparkt und war dann in
die Altstadt hineingegangen, in das Gewirr dunkler Sträßchen,
von denen eines dem anderen zum Verwechseln glich. In La
Ciotat war die Armut nahezu greifbar. In einem dieser alten
Häuser zu leben mußte schlimmer sein, als in der Hütte zu
hausen, aus der Marie sich aus unerfindlichen Gründen seit
mehr als dreißig Jahren nicht fortbewegte. Nadine merkte, daß
dies einer der seltenen Momente war, in denen sie einen
Funken von Mitleid für Cathérine empfinden und sogar in
irgendeinem Winkel ihres Herzens verstehen konnte, weshalb
diese sich so eng an Henri anschloß und ihn nicht loslassen
wollte. Henri wäre in jeder Hinsicht ihre Rettung gewesen. Vor
der Einsamkeit, vor einer tristen Wohnung in einem häßlichen
Ort, davor, nach Hause zu kommen und von niemandem
erwartet zu werden. Nadine war sicher, daß sich Henri auch
dann nicht für seine Cousine entschieden hätte, wenn sie nicht
seinen Weg gekreuzt hätte; es wäre dann eben irgendeine
andere Frau Madame Joly geworden. Aber für Cathérine war
sie die Person, die ihr Leben zerstört hatte.
Wie sehr muß sie mich hassen, dachte sie unruhig.
Als sie das Haus endlich gefunden hatte, stellte sie sich so
dicht an die Tür, daß man sie von den oberen Fenstern aus
nicht würde sehen können. Cathérine öffnete bestimmt nicht,
wenn sie erst entdeckte, wer da zu ihr wollte.
»Komm«, murmelte Nadine leise, »sei zu Hause!«
Der Tag war wieder von besonderer Schönheit, sehr klar,
sehr warm und voller Sonne, aber nicht ein Strahl drang in
diese Straße. Auf den Dachziegeln des gegenüberliegenden
Hauses lag ein Sonnenfleck; es war weit und breit der einzige.
Nadine wollte schon aufgeben, da summte der Türöffner,
und sie gelangte in das finstere Treppenhaus. Da sie fast nichts
sah, stolperte sie die zwei Treppen mehr hinauf, als daß sie
ging. Oben stand Cathérine und zuckte sofort zurück.
»Du«, sagte sie gedehnt.
»Darf ich reinkommen?« fragte Nadine.
Cathérine zögerte, mochte sich aber wohl selbst einer
Feindin gegenüber nicht allzu unhöflich verhalten. Sie nickte
widerstrebend. »Komm herein.«
In der Wohnung brannte Licht, und Nadine erkannte
sogleich, weshalb es so lange gedauert hatte, bis Cathérine die
Tür öffnete: Sie hatte sich noch rasch ihr verschorftes Gesicht
mit Make-up bestrichen; wie hastig sie dies getan hatte, sah
man daran, daß die Farbe an den Rändern verschmierte und
auch um die Nase herum nicht ordentlich verrieben war.
Hat sie geglaubt, ein Liebhaber kommt? dachte Nadine
gehässig. Für mich hätte sie sich wirklich nicht anstrengen
müssen.
»Es ist erst das zweite Mal, daß du hier bist«, sagte
Cathérine. »Das erste Mal war ... das war ...«
»Das war kurz nach unserer Hochzeit«, sagte Nadine, »als
Henri glaubte, er müßte unbedingt Freundinnen aus uns
machen.«
Er hatte damals mit Engelszungen auf sie eingeredet. Sie müßten Cathérine einfach einmal
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