Die Taeuschung
nichts rührte sich. Vielleicht war es
dumm gewesen, gerade am Samstagmorgen hierherzukommen,
um diese Zeit waren die meisten Leute beim Einkaufen. Sie
kramte einen Zettel und einen Stift aus ihrer Handtasche,
schrieb ihren Namen und ihre Telefonnummer darauf und bat
Monique, sie in einer dringenden Angelegenheit anzurufen. Sie
klemmte den Zettel an die Wohnungstür und verließ das Haus.
3
Unter halb gesenkten Lidern sah Pauline Stephane beim Essen
zu. Er saß ihr gegenüber, schenkte ihr jedoch keinen Blick,
sondern konzentrierte sich nur auf das gebratene Hühnchen,
das vor ihm auf dem Teller lag. Er probierte von dem Reis, den
es als Beilage dazu gab, und bemerkte – noch immer ohne
seine Frau anzuschauen –: »Nicht gerade körnig. Du weißt
doch, daß ich pappigen Reis nicht mag.«
»Tut mir leid«, murmelte Pauline. Sie wußte, daß ihr auch
das Huhn nicht besonders gut gelungen war. Normalerweise
war sie beim Kochen so emotionslos und routiniert wie in den
meisten übrigen Lebensbereichen, und bis auf den Umstand,
daß ihr tatsächlich öfter einmal der Reis zu klebrig wurde –
was Stephane dann auch stets sofort monierte –, konnte man
sich auf die korrekte Gleichförmigkeit ihrer Küche verlassen.
Aber seit einiger Zeit war sie einfach nicht mehr sie selbst. Nie
hätte sie gedacht, daß irgend etwas oder irgend jemand sie
einmal in einen Zustand nervöser Unruhe versetzen könnte;
hatte sie doch kaum gewußt, was nervös zu sein überhaupt
bedeutete. Nun wußte sie es: Es bedeutete die Unfähigkeit, sich
auf irgendeine Tätigkeit wirklich zu konzentrieren, es
bedeutete, Stunde um Stunde wachsam und übermäßig
angespannt zu sein, zitternde Hände zu haben, bei jedem
Geräusch zusammenzuzucken.
Das gibt es doch einfach nicht, dachte sie, wie kann denn ein
Mensch derart aus der Fassung geraten?
Sie hatte Stephane noch nie verstohlen während des Essens –
oder während sonst irgendeiner Tätigkeit – gemustert. Es wäre
ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Heute tat sie es, weil sie
in seinen Zügen, in seinem Gebaren nach Hinweisen darauf
suchte, daß er bemerkte, wie es um sie stand, und sich
Gedanken darüber machte. Sie wartete auf eine Reaktion. Eine
Reaktion auf das mißlungene Hühnchen, darauf, daß sie fast
keinen Bissen hinunterbekam, daß sie, wie sie noch vor einer
Stunde vor dem Spiegel festgestellt hatte, erbärmlich blaß
aussah. Zum erstenmal, seitdem sie mit ihm zusammen war,
sehnte sie sich danach, daß er ihr besorgte Fragen stellte, sie
aufmerksam musterte oder sogar zärtlich in den Arm nahm.
Früher war ihr das nie wichtig gewesen, und soweit sie sich
nun erinnerte, hatte Stephane auch noch nie in der von ihr jetzt
ersehnten Weise agiert. Er gehörte zu den Männern, die es
schon haßten, beim Spazierengehen die Hand der Partnerin zu
halten. Geschweige denn, daß er ihr einmal über die Haare
gestrichen oder sich nach ihrem Befinden erkundigt hätte.
Ihr wurde klar, daß dies auch jetzt nicht von ihm zu erwarten
war. Für den Moment interessierte ihn nichts als sein Essen. Er
beugte sich tiefer über den Teller, als es die guten Manieren
erlaubten, und legte seine Arme breit auf den Tisch. Da
Samstag war, arbeitete er heute nicht, und zum erstenmal fiel
ihr auf, wie sehr sein Benehmen zu wünschen übrig ließ, wenn
er Anzug und Krawatte abgelegt und sich vom
Bankangestellten in einen Privatmann verwandelt hatte. Sie
und ihr ästhetisches Empfinden waren ihm jedenfalls offenbar
gleichgültig. Er hatte sich nicht rasiert, und graue Bartstoppeln
bedeckten seine Wangen. Er trug ein weißes T-Shirt, das ihm
zu eng war.
Sein Bauch ist noch viel dicker als damals bei unserem
Kennenlernen, dachte sie und wunderte sich, daß sie dies zuvor
nie bemerkt hatte.
»Ich kann gar nichts essen«, sagte sie schließlich. Stephane
sah kauend auf. »Schmeckt es dir nicht?« »Ich weiß nicht ...
ich glaube nicht, daß es daran liegt ...« »Der Reis klumpt
entsetzlich«, nörgelte Stephane, »und mit dem Huhn ist auch
irgend etwas anders als sonst. Dir ist zuviel Paprika
hineingeraten, kann das sein?«
»Kann sein. Aber daran liegt es nicht.« Ob er in der Lage
sein würde, dies zu begreifen?
Er hatte sich wieder seinem Teller zugewandt. »Du hast
besser gekocht, als wir uns kennenlernten. Sorgfältiger.«
»Mir geht es nicht gut zur Zeit, Stephane.«
Etwas in ihrem Ton ließ ihn aufhorchen. Er blickte wieder
hoch, sah sie diesmal
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