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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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öffnete sich plötzlich; tatsächlich sah es für mich beinahe so aus, als würde sie einfach verschwinden. Jenseits des unsichtbar gewordenen Tores war ein schwach beleuchteter Gang, in dem mehrere Gestalten beieinander standen: vier davon männlich, eine ganz unverkennbar eine Frau. Die Männer trugen Overalls; die Frau war in einen grauen Bodysuit gehüllt, der sich so eng an sie schmiegte, dass ich dafür unter anderen Umständen vielleicht das Wort »verführerisch« gewählt hätte.
    Mit erstaunlicher Behändigkeit sprang die junge Frau über die meterbreite Kluft hinweg ins Gefängnis, und im hellen Licht des Raumes bemerkte ich sofort zwei sonderbare Dinge: erstens waren die glatten, kinnlangen Haare, die ihre zarten Züge umrahmten, von seltsamer, silberner Farbe; und zweitens hielt sie ein Gerät – vermutlich eine Waffe – in den Händen, das zweifellos komplexer und raffinierter war als alle Handfeuerwaffen, die ich bisher gesehen hatte.
    Die Frau richtete das Gerät zuerst auf den einen Beamten und dann auf den anderen. Kupermans Wärter, Sweeney, war so vernünftig, seine Waffe fallen zu lassen und zu der unbeschädigten Tür zu laufen, die aus dem Raum führte. Der zweite Wärter, Farkas, feuerte jedoch törichterweise einen Schuss aus seiner Pistole ab, obwohl er wegen seiner offenkundigen Angst nicht richtig zielen konnte. Die Kugel schlug über der Frau in die Wand, und sie duckte sich einen Moment; dann fixierte sie den Wärter mit ihren dunklen Augen, und aus ihrem Blick sprach ebenso viel Belustigung wie Zorn. Sie richtete das Gerät in ihren Händen auf den Mann und schien im Begriff zu sein, auf ihn zu feuern. Dann aber drehte sie sich plötzlich um und zielte auf ein Pult, das beim Ausgang des Raumes stand. Sie zog eine Art Abzug durch, und dann wurde das Pult fast geräuschlos von einer Garbe Hochgeschwindigkeitsprojektile bombardiert, die es in kleine Stücke zerlegten.
    Wäre der Körper des Wärters von diesem Schuss getroffen worden, so hätte er sich vollständig in seine Bestandteile aufgelöst – genau wie der von John Price.
    Klugerweise akzeptierte Farkas diese Warnung, ließ seine Automatic fallen und rannte ebenfalls zum Ausgang. Sobald er fort war, richtete die Frau ihre Waffe nach oben, verlagerte ihr wohlproportioniertes Gewicht auf eine Seite und lächelte Kuperman und mich an.
    »Doktores«, sagte sie mit einem Nicken. Dann legte sie die Hand an den hohen Kragen ihres Bodysuits. »Alles in Ordnung«, verkündete sie mit einem Blick zur Decke. »Ich habe sie.« Sie sah wieder zu uns und machte eine Kopfbewegung zu dem Loch in der Wand. »Ich treibe dich ja ungern zur Eile an, Eli, aber …«
    »Du kannst mich antreiben, so viel du willst, Larissa!« Kuperman lief zu der eingestürzten Wand und sprang in den metallgerahmten Durchgang dahinter. »Schnell, Dr. Wolfe!«, rief er, sobald er sicher an Bord des Fahrzeugs oder Schiffes war – denn um so etwas schien es sich zu handeln, wie mir allmählich klar wurde.
    »Ja, beeilen Sie sich, Dr. Wolfe.« Die Frau trat kokett auf mich zu. »Mein Bruder möchte Sie unbedingt kennen lernen – genau wie ich.« Sie musterte mein Gesicht und lächelte verwirrt und ein wenig belustigt. »In Wirklichkeit sind Sie nicht ganz so attraktiv wie auf Ihrem Autorenfoto, nicht wahr?«
    Ich war noch immer wie betäubt. »Wer ist das schon?«, brachte ich nur heraus, woraufhin die Frau entzückt auflachte und meine Hand ergriff.
    »Schaffen Sie den Sprung?«, fragte sie. »Oder sollen wir näher herankommen?«
    Ich schüttelte den Kopf; endlich gelang es mir, mich zusammenzureißen. »Das schaffe ich schon«, antwortete ich. »Aber was …«
    »Zuerst der Sprung«, unterbrach sie und zog mich im Laufschritt zu dem Loch in der Wand. »Danach werden Sie alles viel besser verstehen.«
    Und während ihre zarte, aber kräftige Hand meine umfasst hielt, sprang ich über den schmalen, tiefen Spalt vor der Wand des Gefängnisses hinweg und ließ die Welt und die Wirklichkeit, die ich bisher gekannt hatte, ein für alle Mal hinter mir.

7
    E s war kalt in dem Schiff; eine Kälte, die durch den Gegensatz zur schwülen Nacht in Florida und zur muffigen Enge des Besuchsraums im Gefängnis noch schneidender wirkte. Noch ehe ich mich nach meiner Landung auf dem leicht schwankenden Deck des Schiffes aufgerichtet hatte, begann ich zu zittern; aber im selben Moment, in dem mir das zu Bewusstsein kam, rieb mir die Hand, die mich beim Sprung geführt hatte, auch

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