Die Tage des Regenbogens (German Edition)
nachdenklich an einem Keks –, »ich habe beschlossen, die Schule zu schmeißen. Ich will endlich arbeiten und Geld verdienen, dann kann ich mir alle Dinge kaufen, die ich will.«
Ungesüßt schmeckt der Tee bitter, doch ich trinke ihn stumm.
Ich weiß, was Laura will: ältere Jungs, Discokönigin sein, knappe Blusen, enge Jeans und Fernsehserien, bei denen sie träumen kann, dass sie eines Tages einen Produzenten verführt, der sie fürs Fernsehen entdeckt, und dann wird sie reich und berühmt.
Aristoteles und Shakespeare interessieren sie nicht die Bohne. An Hamlet gefällt ihr höchstens die Szene, in der Ophelia Hamlet fragt, was er liest, und der Prinz ihr antwortet: »Worte, Worte, Worte.« Für Laura besteht die ganze Kultur nur aus Worten, und die sind ein ungedeckter Scheck. Das mit der Demokratie ist für sie leeres Gerede, denn sieh dir an, was in Chile los ist. Ihre Philosophie lautet: das Leben genießen, denn irgendwann töten sie einen sowieso.
Ihre Schlussfolgerung: lieber gleich die Schule verlassen und arbeiten gehen.
Sie sieht mich an, als hätte sie die Lunte einer Bombe angezündet und würde nun warten, dass sie explodiert.
Ich sage nichts, denn vor meinem inneren Auge läuft wie auf einer Kinoleinwand ab, was Laura erwartet, wenn sie die Schule verlässt.
Um nichts sagen zu müssen, schiebe ich mir einen halben Keks in den Mund und kaue ihn schnurpsend. Sie hebt die Augenbrauen und fragt mich, wie ich das finde. Sie weiß genau, wie ich das finde, und sie weiß auch, dass ich niemand bin, der seine Meinung für sich behält, doch in mir bohrt vor allem die Frage, warum Laura mit dieser Geschichte zu mir kommt und nicht zu Patricia Bettini.
»Du willst also meine Meinung hören«, sage ich schließlich.
»Eigentlich nicht, Santos. Ich habe mich schon entschieden.«
Sie holt ein Schminketui aus der Tasche und prüft in dem kleinen ovalen Spiegel ihren Mundwinkel, dann fährt sie mit der Zungenspitze über eine kleine offene Stelle, die sicher brennt.
»Hast du es Patricia erzählt?«
»Natürlich nicht.«
»Sie ist deine beste Freundin.«
»Sie ist meine beste Freundin. Aber sie ist auch sehr unschuldig.«
Ich stehe von meinem Stuhl auf und mache das Fenster zur Terrasse auf.
Um kurz nach sechs setzt in Santiago bereits die Dämmerung ein. Auf dem nassen Asphalt quietschen die Reifen der Busse, die Verkehrspolizisten mit ihren Trillerpfeifen sind gegen den Stau machtlos. Die Autofahrer hupen, als könnte sie das weiterbringen.
Ich schenke Tee nach. Wann wird Papa zurückkommen?
»Ich brauche deine Hilfe, Nico.«
»Und zwar?«
»Ich habe hier ganz in der Nähe Arbeit gefunden.«
»Wo?«
»Über die Straße.«
»Und?«
»Ich kann meinen Eltern nicht erzählen, dass ich nicht mehr in die Schule gehe. Ich werde in Schuluniform aus dem Haus gehen, aber ich bräuchte dein Zimmer, damit ich mir was anderes anziehen kann. Sexy Kleider. Ich brauche nur fünf Minuten.«
»Laura, geh lieber weiter zur Schule. Ich kann dir in Englisch helfen und in Philosophie, Patricia in Mathe.«
»Und was ist mit Chemie und Physik und Geschichte und Kunst?«
»Aber ich helfe dir nicht gern beim Umziehen.«
»Bitte, Nico. Es sind fünf Minuten. Nur Dienstag und Donnerstag.«
»Nein.«
»Du bist mein bester Freund.«
»Patricia Bettini ist deine beste Freundin. Nicht ich.«
»Warum willst du mir nicht helfen?«
Laura Yáñez steht auf und durchbohrt mich mit dem Blick.
»Du bist ein Moralist, Nico.«
Dieses gewichtige Wort aus Laura Yáñez’ Mund hört sich für mich komisch an.
Denn eigentlich will sie mir sagen, ich bin ein Arschloch.
Oder wie mein Vater sagen würde, »du bist nicht ethisch, Nicómaco«.
»Mach, was du für richtig hältst. Du kannst meine Wohnung haben. Hier hast du den Schlüssel von meinem Vater.«
ZWEIUNDZWANZIG
A kkorde verwandelten sich, Zigaretten glommen im Aschenbecher vor sich hin, ein Whisky nach dem anderen ging zur Neige, und Bettini saß immer weiter am Klavier, bis er, halb benebelt, halb erschöpft, in den Schlaf sank.
Übergroß und farbig wie auf einer Kinoleinwand zogen die Bilder an ihm vorbei. Auf der Bühne des Teatro Municipal wartete ein Chor aus etwa hundert Männern und Frauen in Abendrobe – die Herren im Smoking, die Damen in langen Seidenkleidern – auf das Erscheinen des Dirigenten, während das Orchester unter Anleitung des Konzertmeisters Saiten und Rohre stimmte. Zu dem Getöse kamen das Stimmengewirr des Publikums, das in
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