Die Tage sind gezählt
Wiesel.
Ich sah eine seltsame, verdrehte, schwarze Wolke mit einem Fleck dazwischen. Laß mich deutlicher werden: Nimm einen schwarzen Schmirgelpapierstreifen und reiß ihn entzwei. Halte die beiden Enden zehn Zentimeter weit auseinander und plaziere dazwischen einen Plastiksack voller Kaffee mit Milch.
Das sah ich.
Ich zwinkerte mit den Augen, und dabei ging ein zuckender Schmerz durch meinen Kopf. Ich zog an meinen Wangen und bewegte meinen Hals. Dann hellte sich die Szenerie auf. Aus dem Kaffee mit Milch wurde Mokka und daraus ein Gesicht, umrahmt von einem enormen Lockenkopf.
Sie sah mich schweigend an und begrüßte mich Gott sei Dank nicht mit »Wie geht es dir?«. Sie sah mich nur an mit ihren großen dunklen Augen in ihrem dunklen Gesicht.
Es war eine Negerin.
Ich fühlte, wie meine Schädelhaut gegen die Maske stieß, und wußte im gleichen Augenblick, daß ich verloren war. Thruway ist nichts als eine einzige riesige Ringstadt, ein dichtgeschmolzener Wall rund um das Negergebiet. Und ich war, so schien es, mitten in das Negerland hineingelaufen. Und dennoch … bestand die ganze Absperrung nur aus diesen unwichtigen Stacheldrahtverhauen?
»Nur dieser miese Stacheldraht …«, murmelte ich. »Warum macht ihr keinen Ausfall?«
»Das glaubst du nur«, sagte eine tiefe, melodische Stimme. »Es liegen Minen darunter.«
»Und ich bin die ganze Zeit dahindurch gelaufen?«
»Sie gehen nur hoch, wenn sie von einer größeren Menschenmenge überschritten werden.«
»Aber«, sagte ich, »… ihr könnt doch …«
»Nein«, unterbrach sie mich kurz angebunden, »wir können nicht. Weißt du, was einem Neger passiert, der allein das Minenfeld überwindet?«
So einfach war das.
Ich schwieg und begriff grimmig, daß ich in jedem Fall die Bullen vom Hals hatte, weil selbst sie sich nicht in das Niggerland wagen würden. Aber ich hatte ihnen ihre Arbeit selbst abgenommen. Als Weißer im Niggerland war ich schon so gut wie tot.
»Glaubst du«, fragte ich, »daß ich aufstehen kann?«
»Wenn du dich stark genug dazu fühlst.«
Es wäre natürlich leicht gewesen, sie zu töten, aber woher sollte ich wissen, daß wir allein waren?
»Wo sind die anderen?« fragte ich.
»Wir sind allein«, erwiderte sie, kaum vernehmbar.
»Oh«, sagte ich. »Hast du mir den Schlag versetzt?«
Es schien, als lächelte sie, und ich meinte, das Blitzen weißer Zähne zu erkennen.
»Man klopfte an, wenn man das Zimmer einer Dame betritt«, sagte sie. »Und außerdem hatte ich deine Maske nicht gleich gesehen.«
»Macht das einen Unterschied?« fragte ich.
»Den, daß du noch lebst. Ich wollte zuerst Van rufen, meinen Bruder. Er haßt …«
»Er haßt die Weißnasen, jaja«, sagte ich, während ich mich mit dem Ellbogen abstützte. »Warum hast du es dann doch nicht getan?«
»Ich erkannte dich an deiner Maske, zumindest dann, als ich sie nicht von dir losbekam.«
»Du kannst von Glück reden, daß du das nicht schafftest«, erwiderte ich barsch. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wieso ich noch lebe.«
»Deswegen«, sagte sie, auf die Maske zeigend.
»Nein«, zweifelte ich.
»Doch«, sagte sie mit neutraler Stimme. »Glaube nur nicht deshalb, weil du Theodore umgebracht hast.«
»Manche Dinge sprechen sich sehr schnell herum.«
»Das ist nicht schwer. Es hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Denkst du etwa, daß sich mit Theodores Tod die Welt schlagartig ändert? Daß du sie befreit hast?«
»Madame, ich denke überhaupt nichts. Es war eine ganz persönliche Angelegenheit. Aber du brauchst nicht anzunehmen, daß ich euch helfen werde.« Ich hätte in diesem Augenblick fliehen können. Ich hätte sie töten können. Ich hätte auch Van umbringen können, wenn er aufgetaucht wäre. Aber ich konnte nicht ewig fliehen. Ich nahm an, daß die Bullen mich nicht im Niggerland suchten. Wie sollten sie auf die Idee kommen, daß man mich hier brauchte. Außerdem verfügen die Nigger über ihre eigenen Ordnungsmächte – und die konnte ich ja doch nicht alle umlegen.
»Du kannst uns sehr wohl helfen«, sagte sie mit Nachdruck. »Wir haben hier sehr viele Menschen, die an Krebs leiden.«
»Ach«, sagte ich und versuchte, meine Stimme dabei ehrlich klingen zu lassen, »glaubst du wirklich, ich könnte Krebskranke heilen? Ich habe es versucht. Unter anderem bei Theodore, und …«
»Und das war eine persönliche Sache«, erwiderte sie lässig. »Ich bin überzeugt davon, daß jemand, der heilen kann, auch die Gabe zum
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