Die Tage sind gezählt
Schnelligkeit hinter den Hallen und dem Zaun.
Ich machte eine Reihe von Schritten und sah mir dabei die Häuser an, um mich von meinen Schmerzen abzulenken. Es war ein ziemlich armseliges Viertel, in dem ich mich aufhielt, und dank dieser Tatsache durchzog mich ein Gefühl von Heimweh. Ich, zusammen mit Jay, der in der Nase bohrte, und Ann und Mary-Jo anstarrend. Die Mädchen hüpften und kreischten vor Vergnügen. Der Lichtschein auf ihren bunten Röckchen. Und Jay, der mit einem Finger in der Nase neben mir stand, während ich angeberisch eine Hand auf meine Hüfte gelegt hatte, die Beine gespreizt.
Ich schüttelte den Kopf. Es war jetzt nicht die richtige Zeit, sentimentalen Erinnerungen nachzuhängen. Das Bild wurde unscharf und verschwand aus meinem Kopf. Ich fühlte plötzlich nicht nur die Schmerzen in Händen und Füßen, sondern auch die in meinem Schädel. Und ich sah sie noch einmal sterben. Alle die Menschen aus unserem Viertel, die ich geliebt hatte. An einem Tag war die halbe Weltbevölkerung umgekommen. Das hatte mich weniger berührt als der Tod jener, die ich liebte. Verrückt genug: Ich erinnerte mich an den Tod von Nadel-Joe, dem Junkie, der gestorben war, während er versucht hatte, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. Manchmal höre ich ihn noch in meinen Träumen. Und während ich dieses Viertel mit schmerzenden Augen betrachtete, überfiel mich wieder diese grenzenlose, sich ewig wiederholende Verblüffung, daß ich bei dieser Katastrophe nicht umgekommen war, sondern mich verändert hatte.
Das Viertel schien vollkommen verlassen. Möglicherweise war es gar nicht bewohnt – aber ebensogut konnte es voller Leben sein. Es waren alte, verfallene Häuser, und wenn mich mein Verstand nicht trog, hatte ich bereits die Bedeutung des Stacheldrahts erraten. Erneut tastete ich mich über einen Wall von Schmerzen. Jedes Haus hatte eine Treppe, die zum Eingang hinauf –, und eine, die in den Keller hinabführte. Es sah so aus, als sei ich vor eine wichtige Entscheidung gestellt, und beschloß, die Kellertreppe zu nehmen.
Nach zwei Stufen begannen meine Hände, Füße und mein Kopf wie Kohlen zu glühen. Meine Kleider schlangen sich wie eine zweite Haut um die Glieder. Sie waren kalt, genauso kalt wie die Hände von Wiesel Driesel, als sie die Maske über meinen Kopf zogen.
Meine Zähne klapperten, Stöße von Schmerz machten mich taub. Mein Geist schwoll an wie ein Ballon. Ich konnte nicht mehr denken. Der Wind ließ mein Hemd flattern und schmiegte die Hosen gegen meine Haut, so daß es sich anfühlte, als griffen die kalten Finger eines Homosexuellen nach mir. Meine Augen verloren jeden örtlichen Bezugspunkt. Ich keuchte. Mein Magen stülpte sich um. Fluchend versuchte ich weiterzugehen. Egal, ob es hier Menschen gab oder nicht, ich brauchte Hilfe, etwas zu Essen und einen Platz zum Ausruhen. Nötigenfalls mußte ich sie töten, denn wenn die Art, in der sie ihre Häuser verrammelten, auf ihren Charakter schließen ließ, würden sie mich wohl gnadenlos liegenlassen. Ich strauchelte die Treppe zum Souterrain hinunter und tastete nach der Tür. Ich schnappte nach Luft, stieß sie wieder aus, schluckte erneut und schob die Tür auf. Ich machte einen Schritt hinein, dann donnerte alles auf mich nieder. Ich lief in die Leere.
Die Besinnungslosigkeit läßt dich zweimal leben, weil sie Erinnerungen hervorholt, halbbegriffene Träume und die Blitze rosiger oder schwarzer Gesichter über dir. Normalerweise weißt du nicht, was es bedeuten kann, Erinnerungen wieder zu erleben, aber für mich hat es immer nur Verdorbenheit und Fäulnis bedeutet. Gräben durch all die kleinen Schmerzen und das Vergessen glücklicher Augenblicke. Ich hatte nicht viele glückliche Augenblicke zu vergessen.
»Schau!« sagt Driesel zu mir und hält mit seinen metallenen Hilfsarmen einen Spiegel vor das Gesicht. »Schau nur!«
Seine Stimme klang nervös durch die Empfänger auf meinen Ohren, und ich sah seine Gestalt schwach hinter dem Schirm. Die metallenen Finger, die Klauen, die den Spiegel hielten, schienen eine obszöne Bewegung zu machen. Ich konnte mich sehen.
»Schau!« wiederholte Driesel, »das haben die Bomben aus dir gemacht.«
Ich schaute und schrie. In meinem Innersten kreischte es: Wiesel Driesel! Wiesel Driesel! Aber nicht in Wirklichkeit. Als würde mir ein Spitzname mein Gesicht zurückgeben können. Ich hätte es besser wissen sollen: In seiner Strahlungsverpackung glich es nicht einmal mehr einem
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