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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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ich in die Körper von Krebskranken eindringen mußte und die Krebszellen ausbrannte. Ich konnte an nichts anderes denken als an die Vernichtung dieser wildwuchernden Zellen. Ich verbrannte den Krebs, aber auf die Dauer verbrannte er auch mich, denn während ich ihn bekämpfte, ging er gegen mich an, mit einer Kraft, die ebenso schnell wuchs wie die Zellen, die er erzeugte. Er bekämpfte mich und er gab mir Möglichkeiten, die kein anderer Mensch besitzt, Möglichkeiten, die selbst die Bomben mir nicht hatten geben können.
    Aber um welchen Preis?
    Es ist niemals wirklich gut, über einen Preis nachzudenken, den man bereits präsentiert bekommen hat. Meine Gabe ist in jedem Fall uneinschätzbar. Die Fähigkeit, mehrere Menschen zugleich und sehr schnell zu töten. Obwohl es irgendwo eine obere Grenze gibt, und ich ebenso heilen kann … Aber man kann nicht alles haben, selbst jetzt nicht, Lionne.

    »Muß das sein?« fragte ich ungehalten, nachdem ich die Krankheit des alten Negers lokalisiert hatte.
    »Yeah«, sagte er. »Es muß sein, Drech. Er ist ebenfalls ein menschliches Wesen. Oder denkst du anders darüber? Wir ehren unsere Alten. Sie haben …«
    »Ja, ja«, knurrte ich. »Sie haben eine große Schlacht geschlagen und so weiter. Wenn ich ihn von seinem Krebs heile, lebt er noch drei, vier schmerzhafte Monate lang – von mir aus auch sechs, sieben oder ein ganzes Jahr –, bevor er an etwas anderem stirbt. Ich verstehe jetzt nur allzugut, warum ihr es nie geschafft habt: Es sind die seltenen Regungen eurer Herzen.«
    »Erspare mir deinen Sarkasmus, Drech«, sagte Lionne, die hinter Van stand. Ruhig wie immer. »Tue nun bitte, um was wir dich baten.«
    Es war der kühle, überhebliche Tonfall in ihrer Stimme, der mich verrückt machte. Heute verstehe ich, daß dieser Tonfall gar nichts mit Überheblichkeit zu tun hatte, aber damals drehte ich mich auf dem Absatz herum und schrie: »Ja, tu bitte, um was sie dich baten! Glaubst du, daß ich auch nur den Teufel darum gebe, was …«
    Van versetzte mir einen blitzschnellen Schlag auf den Mund. Er war groß und stark, ich hingegen eher klein und mager, und so taumelte ich nach hinten. Der Stoff meiner Maske schob sich heiß und breiig gegen meinen Mund. Ich fühlte meine Lippen anschwellen.
    Bevor ich es selbst richtig begriff, langte ich nach ihm, und er bäumte sich auf, wurde langsam aschgrau und fühlte, wie der Tod nach ihm schnappte. Ich fand mein Gleichgewicht wieder, tat einen Schritt nach vorne und genoß es, wie er grauer und grauer wurde. Er schien auf einmal viel kleiner zu sein als ich. Ich hätte ihn längst sterben lassen können, aber ich hielt mich aus unverständlichen Gründen zurück. Ich wußte, daß ich ihn haßte, aber irgend etwas in mir war stärker als ich und verhinderte, daß ich ihn umbrachte.
    »Hör auf, Drech«, sagte Lionne scharf, während sie nach meinem Arm faßte. Als ich sie ansah, bemerkte ich Wut in ihrem Blick, vermengt mit Abscheu.
    Ich zog mich aus ihm zurück. Zum Schein hielt ich meine Pose aufrecht, was mir keinerlei Mühe bereitete, da ich immer noch eine verdammte Wut in mir spürte.
    »Gott verflucht«, sagte ich langsam und wandte mich dem alten Mann zu. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Lionne ihren Bruder in die Arme schloß und schüttelte.
    Ich schloß hastig meine Augenklappen und ergriff den Tumor an der Magenöffnung bei den Wurzeln. Ich ignorierte die lockenden Botschaften der Krebszellen und fühlte, wie ich zuerst zu einem feurigen Punkt, dann zu einer lodernden Fackel wurde. Nichts zählte mehr als die Vernichtung, nichts war relevanter als die Eliminierung dieser mit falschen – jedenfalls anderen – Informationen vollgestopften Krebszellen. Ich zapfte sie an, bekam das vertraute Gefühl der Intimität mit dem Körper des anderen, denn die Zellen zeigten mir ihn wie in einem Spiegel. Kurz war da das flache Gefühl des Einssein, aber ich setzte grimmig mein Werk fort und fegte den Tumor hinweg.
    Als alles geschehen war, nachdem der Haß wie eine zischende Lohe aus mir gewichen war, wandte ich mich wieder Lionne zu und Van, der wieder auf den Beinen war. Ich fragte mich, wieso ich ihnen nicht sagte, daß es mir gegen den Strich ging, ihn am Leben gelassen zu haben, und wurde automatisch wieder wütend.
    »Faß mich nie wieder an!« sagte ich leise zu ihm. »Faß mich nie wieder an, verstehst du? Ich soll eure Kranken heilen, und ich werde sie heilen, aber danach gehe ich meiner Wege, und niemand wird

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