Die Tage sind gezählt
einige Milligramm einer grünen Flüssigkeit in seine Blutbahn.
»Osseno«, rief er verzweifelt, aber auch der letzte Funke des Widerstandes verschwand. Er begann zu rennen. Auf dem halben Weg zum Horizont hörte er das Flüstern des endlosen Ozeans.
In seinem Rücken verfärbte sich das Nest zu einem fahlen Grau. Blauer Lebenssaft benetzte die Erde und versank im Morast. In dem Kristall zeigten sich tiefe Sprünge. Splitter brachen ab. Wie Zucker in heißem Wasser schmolz das Nest zusammen. Ein letztes Zucken schleuderte den Symbionten zur Hälfte in den Sumpf. Mit einem kläglichen Schrei versuchte er sich zu erheben und zurückzukriechen. Drahtähnliche Tentakel umfingen ihn und zerrten ihn tiefer hinein. Ein kurzer Kampf ließ für einen Augenblick Flüssigkeit aufspritzen, dann glättete sich die morastige Oberfläche des Bodens wieder.
Dort, wo das Wasser auf das Land traf, hatte sich eine Ansammlung versteinerter Muscheln angehäuft. Auf dem Meer trieb ein durchsichtiger Schleimfilm. Etwas weiter weg spielte die See mit Bimssteininseln, unbewohnten Festungen in schäumenden Wogen.
Ihre Fußspuren waren nicht zu übersehen. Es schien, als würden sie einen schwachen Lichterglanz ausstrahlen, damit er sie längs des endlosen Strandes verfolgen konnte. Tassanein kniete in dem groben Sand nieder. Marmorkiesel scheuerten an seinen Beinen.
»Warte«, flüsterte der Wind.
»Fliehe«, murmelte die See. »Fliehe! Fliehe!«
Die Welt sprach zu ihm. Jede das Land berührende Welle war eine Warnung, jede Berührung des Windes eine Ermunterung. Tassanein zögerte. Gedankenlos spielten seine Hände mit versteinerten Fischgräten. Meine Finger, dachte er, sind Greifwerkzeuge ohne Zweck. Meine Nägel: rudimentäre Horngewächse, und nicht mal als Klauen verwendbar. Meine Zeit ist vorbei, meine Rasse ist eine Rasse von Parasiten; abscheuliche Blumentierchen, die zu lange zaudern.
Er schlug den Blick nieder. »Ich bin ein Gruftbewohner; etwas, das nicht sterben wollte, als seine Zeit gekommen war.«
Hinter ihm knirschten die Kieselsteine. Er zog sich zusammen, rollte sich ein wie ein Igel und schloß die Augen. Ich werde sie nie wieder öffnen, dachte er, nie wieder.
Plötzlich schrie er: »Geh weg! Laß mich in Ruhe!« Er fühlte ihre Hände auf seinem Körper. »Ich will kein Tier sein!« Und doch versteifte er sich. Tief im Inneren seines Geistes wurde nun die Patrone abgefeuert, die ihn denken ließ, die Gedankenpatrone, die die beiden Zeitreisenden aus der Vergangenheit ihm eingepflanzt hatten. Zurück blieben einzelne Wortfetzen und undeutliche Bilder aus der Vergangenheit, die vor seinem inneren Auge tanzten.
»Nein«, rief er, »ich will kein …« Seine Worte wurden zu einem tierischen Knurren. In wilder Raserei riß er sie an sich. Sie fand schnell seinen Rhythmus, wie er den ihren fand. Gedanken und Worte hatten zu existieren aufgehört. Tassanein krümmte sich in der gewaltigen Entladung seines Orgasmusʼ. Jede seiner Körperzellen sandte einen Stromstoß aus, in dem alle genetischen Informationen kodiert waren. Das Weibchen erreichte den Höhepunkt im gleichen Augenblick. Zwischen ihren Körpern blitzte grünes, magnetisches Feuer auf. Die Magnetfelder berührten einander und formten ein neues. Die noch unkodierten Chromosomen fingen die neue Kraft auf und legten sie für die Ewigkeit fest.
Dann lag er da, bewegungslos, wartend. Er fühlte sich schwer und abgekämpft. Wie eine Schildkröte an einem heißen Sommertag. Seine Fingerspitzen ertasteten die harte Kühle dreier frisch gelegter Eier. Er nahm sie an sich und trug sie zum Wasser. Beinahe liebkosend nahmen die Wellen die Eier aus seinen Händen und spülten sie weg. Tassanein schüttelte die Tropfen aus seinem Pelz. Silbrig fielen sie von ihm ab und rollten auf den Kieselstrand.
Ein schriller Schrei erklang, und in der Nähe versuchte ein einzelner Kriecher die sichere Brandung zu erreichen. Tassanein sprang in seine Richtung. Der Kriecher glitt zur Seite und entkam beinahe in das tiefe Wasser, aber das Weibchen tötete ihn mit einem einzigen Biß ihrer scharfen Zähne. Sie legte den erschlafften Körper vor Tassaneins Füße und schaute ihn erwartungsvoll an. Er nickte ihr zu.
Gemeinsam tranken sie das korallenrote Blut.
Übersetzt von Ronald M. Hahn
Julien C. Raasveld
Das Midas-Syndrom
Symptom Nummer eins: in der Nacht zwischen heute und morgen
Das Labor summt wie eine defekte Maschine. Die Wände sind kahl und weiß. Die Atmosphäre
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