Die Tage sind gezählt
stickig. Die drei Männer, ein Bärtiger, ein junger Blondschopf und ein kahlköpfiger Greis, beugen sich über das Reagenzglas, in dem sich ängstlich ein winziges Insekt bewegt. Auf den Gesichtern der Männer laufen kleine Schweißtropfen herab. Die Spannung läßt ihre Herzen schneller schlagen.
»Immer noch keine Wirkung?« fragt der jüngste.
Der älteste, der kahlköpfige Greis, schüttelt zuerst schweigend den Kopf. Dann schaut er auf, befeuchtet die Lippen und sagt dann, kaum hörbar: »Nichts. Nicht die geringste Wirkung.«
Der dritte Mann, jener mit dem Bart, bewahrt Stillschweigen. Mit leicht zittrigen Händen nimmt er ein Fläschchen aus einer Reihe, zieht eine Injektionsspritze auf, die er dann mit einem einzigen Daumendruck in das Reagenzglas entleert. Das Insekt kriecht ungerührt weiter über die gläsernen Wände seines künstlichen Universums. Es führt ein sinnloses Leben. Aber welches Leben hat schon Sinn?
»Keine Wirkung«, stellt der blonde junge Mann fest. »Wir müssen uns etwas anderes ausdenken.«
Der dritte Mann, der mit dem Bart, zieht müde die Schultern hoch. »Nur eine plötzliche Geburtenexplosion ihrer natürlichen Feinde – Vögel oder Amphibien – könnte uns helfen. Aber die sind seit langem ausgestorben … Ausgerechnet dieses Drecksviehzeug hat alles überlebt …« Der Schweiß erzeugt kreisförmige Flecken auf seinem weißen Nylonhemd, ignoriert einfach die Klimaanlage des Labors und das garantiert schweißverhindernde Deodorant. Draußen herrschen 45 Grad im Schatten. Der Anfang eines tropischen Sommers in Brüssel. Der Brutkasteneffekt der von der Industrie in die Atmosphäre geschleuderten Stoffe hat das gesamte Klima der Erde von unten nach oben gekehrt. Glücklicherweise ist für 20.00 Uhr etwas von dem modrig riechenden Regen angekündigt worden. Er wird ein wenig Abkühlung bringen. Schließlich ist es erst Mai, und der lange, trockene, heiße Sommer liegt noch vor ihnen. Aber angefangen hat er trotzdem, die von Tag zu Tag steigende Selbstmordziffer spricht eine deutliche Sprache.
Draußen breitet sich Dunkelheit aus. Schwärme von Moskitos und Mücken sterben, das rasselnde Geräusch von unaufhörlich feuernden Maschinenpistolen erzeugend, beim Anflug gegen die Fensterscheiben. Raupen hängen in dichten Trauben in den wenigen noch existierenden Bäumen und Sträuchern.
Symptom Nummer zwei: Brot, Spiele & die weiche Erde
Große Wolken flüssigen Kunstdüngers, durchsetzt mit sinnlos gewordenen Insektiziden schweben hinter dem Hovercraft her, als weigerten sie sich, sich mit der ausgelaugten Erde zu verbinden. Das sich wiegende, gräulich gefärbte Korn streckt hungrig die Ähren in die Höhe. Hier ist noch nichts von den Insektenschwärmen kahlgefressen worden. März in der Sahara, die erste Ernte muß schnellstens eingebracht werden: die Nahrung für sechs Milliarden hungrige Mägen.
In der Kabine flackert ein rotes Lämpchen auf. Abdel Sal schaltet die Automatik auf Handbedienung um und steuert das Gefährt in einem großen Bogen auf das Anbauzentrum der Kommune zu. Der Videoschirm flackert unerwartet auf. Das Gesicht des Subdirektors Beauviand erscheint auf dem Bildschirm. Wie immer lächelt er.
Und er sagt: »Sonderanweisung für die Spätschicht. Bleiben Sie auf Ihrem Posten. Ich wiederhole: Bleiben Sie auf Ihrem Posten. Angesichts der zunehmenden Nahrungsmittelknappheit auf der ganzen Welt und der konstanten Schrumpfung notwendiger Kalorienrationen hat der Weltrat beschlossen – in Übereinkunft mit dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund –, eine Produktionserhöhung von fünfzig Prozent in allen Anbaugebieten zu erreichen. Das bedeutet, daß der zehnstündige Arbeitstag in einen fünfzehnstündigen umgewandelt wird und der monatliche freie Tag nur noch alle sechs Wochen genommen werden kann. Von zwölf Monatsschichten gehen wir auf achtzehn über. Die Spätschicht wird ihre Arbeit von nun an um fünf Stunden fortsetzen; die Nacht- und Frühschichten erhalten einen neuen, detaillierten Arbeitsplan, der darauf hinauslaufen wird, einen Teil unserer Mitarbeiter in anderen Produktionsbereichen einzusetzen. Es versteht sich von selbst und braucht keiner ausführlicheren Erwähnung, daß durch die zukünftig höhere Produktion im industriellen Sektor auch unser Wohlstand wieder um einige Grade ansteigen wird. Von nun an wird jedermann in der Lage sein, sich ein Tridi für jedes einzelne Kind anzuschaffen, sowie einen Viert- oder Fünftwagen zu erstehen. Die
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