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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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Evolution damit ihr Ende gefunden hat.«
    »Schlafe weiter«, summte der Symbiont. »Die Nacht ist noch lang.«
    An diesem Abend nahm er in den Kristallen ein schwaches, ängstliches Zittern wahr. Es war eine nur vage spürbare Reaktion auf ein Lebewesen, das hier herumgeschlichen war, das sich gerade noch außerhalb des Lichtkreises seines Nestes aufgehalten hatte. Mehrere Minuten lang war er keines Entschlusses fähig. Sollte er sich in die innersten Kelche zurückziehen, die schweren Blätter seines Nestes heranzüchten und härten wie Stahl? Vielleicht, vielleicht. Die langen Tage einer solchen Zukunft wuchsen bereits in seiner Einbildung zu einem verstaubten, toten Gewicht heran: Tage ohne Sonnenstrahlen und ohne die bittersüßen Wanderungen an den Sümpfen der Jahreszeiten entlang. Statt dessen die pulsierende Stille seiner Herzen und die Unmöglichkeit, sich in dem isolierenden Saft zu bewegen.
    Dann werde ich warten, dachte er, bis irgend etwas sich mir nähert, bis es sich mir so weit nähert, daß es an den scharfen Blättern nagen kann und mit seinem Rüssel die Pollen aussaugt.
    »Ich werde es nicht tun«, informierte er den Symbionten. »Ich bin nicht in der Lage, das zu verkraften. Ich kann nicht darauf warten, daß irgend etwas Schreckliches oder Formloses sich einen Weg zu mir herein bahnt, als sei ich ein Weichtier, das man aus einer Kalkschale schlürfen kann.«
    Der Symbiont schwieg. Er schaukelte neben Tassanein träge an einem dünnen, klebrigen Faden. Hin und her, hin und her. Tassanein kletterte durch die halbgeöffneten Blütenblätter nach oben. Der kalte Wind war nach der Nestwärme eine grausame Erfahrung. Instinktiv krümmte er sich, glitt zurück in den wohligen Pfuhl.
    »Es ist kalt draußen. Die Sonne ist bereits aufgegangen, und dennoch ist es kalt wie in der Nacht.«
    Der Symbiont öffnete eines seiner ausdruckslosen Facettenaugen. »Du solltest den Kreis des Nestes verlassen. Du hast es selbst beschlossen, und es war ein guter Entschluß. Aber natürlich zwingt dich niemand, eigene Beschlüsse auch durchzuführen.«
    Tassanein rieb sich den Nacken und machte eine vage Gebärde des Abscheus. »Warum ausgerechnet jetzt? Bald wird die Sonne höher stehen. Und ich werde wacher sein. Ich habe lange geschlafen. Die Unwirklichkeit des Traumes bedrückt mich noch immer.«
    Der Symbiont brummte. »Es ist Angst«, spottete er, »reine Angst, Tassanein, willst du das leugnen? Deine Argumente sind leere Phrasen. Die Sonne wird nur wenig heller werden, das weißt du, und das Mehr an Energie, das sie am Mittag von sich gibt, kommt ebensogut deinem Feind zugute – diesem lautlosen Schleicher.«
    »Du hast recht«, gab Tassanein zu. Er wurde sich jetzt des schwachen Zitterns bewußt, das seinen Körper ergriffen hatte. Es war eine Flut von Widerwillen, die sein Fell sträubte und ihn restlos durchdrang. »Gut«, sagte er, »ich gehe. Du hast mich überzeugt.«
    »Es ist ein weiser Entschluß«, entgegnete der Symbiont. »Ich werde hier auf dich warten. Einer muß dafür sorgen, daß die Kriecher das Nest nicht betreten.«
    Tassanein erklomm den Rand und ließ sich auf den feuchten Boden fallen. Er blickte kurz auf sein glitzerndes Nest zurück. Nur undeutlich war er in der Lage, hinter den massiven Kristallwänden seinen Symbionten zu erkennen. Er starrte ihm mit neun Augen nach und ließ, eng an die Wand gepreßt, kleine Funken aus seinen Fühlern sprühen.
    Die alte Sonne hing wie eine erloschene Neonreklame in der feuchten Kälte: heruntergekommen, verwelkt und senil. Ihre niedrigen Strahlen glitten über die Sümpfe hinweg, tanzten über ausgedehnten Wasserflächen. Da und dort wuchs eine armselige Pflanze aus der Erde, weiter hinten blies der Wind in fossilienhafte Riffe. Die spukhafte Musik der Natur wehte ihm entgegen, und zum erstenmal drang die öde Einsamkeit der Umgebung auf ihn ein. Sie war leer, ausgelaugt und farblos, und er hatte diese Eigenschaften schon früher entdeckt. Nur die Einsamkeit, die hatte ihn noch nie so überfallen.
    Es ist seltsam , vernahm er die Gedanken seines Symbionten aus der Ferne, daß die Einsamkeit erst verwehen mußte, ehe du sie bewußt wahrnahmst. Denn die Welt ist nicht mehr einsam. In den Schatten ist etwas mit unbekannten Absichten. Das Land ist nicht länger leer.
    Tassanein antwortete nicht. Er wagte nicht – nicht einmal mit einem einzigen Gedanken –, die bedrückende Stille zu durchbrechen. Um seine Füße herum schwammen Meeresinsekten. Sie

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