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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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woben eine Milchstraße aus kaltem Licht in die tieferen Sümpfe. An einer Stelle waren sie besonders stark vertreten. Ihr leuchtendes Gewimmel erregte Tassaneins Aufmerksamkeit.
    Er beugte sich über sie, grub die Hände tief in den Morast, bis seine Finger auf etwas Hartes stießen. Es war die glatte Form einer fast völlig runden Kugel. Tassanein hob seinen Fund gegen das schummrige Sonnenlicht. Hoffnung, tiefe Angst und schreiendes Verlangen … Wie pfeilschnelle Fische schossen die Gefühle durch die Ströme seines Geistes.
    »Azavas, ein Ei!« rief der ältere, wildere Teil seines Bewußtseins, jener, der Lebenssäfte auszustoßen verlangte und nur durch die Augen von Nachwuchs auf die Welt zu blicken vermochte, der den Tod einer Rasse und eines Universums noch nicht zur Kenntnis genommen hatte. Der andere Teil wand sich vor Furcht. Im unbefruchteten Leben des Eies sah er seinen eigenen Untergang.
    Tassanein bewegte sich nicht. Seine Muskeln waren zu einem unter starker Spannung stehenden Netz verkrampft. Die graue Hülle des Eis zerbach unter seinem Griff. Halbfertig fiel der Embryo in den Sumpf. Sofort näherten sich schwarze Raubinsekten. Aus blauer Flüssigkeit wurde rasch verwehender Dampf.
    Er verstand nichts. Es war ein altes Ei gewesen, wie die brüchige Schale bewiesen hatte. Ein unbefruchtetes. Aber dennoch relativ frisch. Höchstens einen Monat alt.
    »Zurück!« kreischte der Symbiont plötzlich. »Zurück! Es ist eine Falle! Eine Falle!«
    Mit ungeheurer Schnelligkeit tastete Tassaneins Blick die Umgebung ab. Aus dem niedrigen Hügelgebiet kam ein furchteinflößendes Knirschen, als stürme irgend jemand mit großer Geschwindigkeit auf ihn zu. Eine große Gestalt mit dünnen Armen sprang plötzlich über einen nahe gelegenen Wasserlauf und stieß einen schrillen Schrei aus. Ein Lockruf. Er war voller Melancholie.
    Tassanein hätte sich fast dazu hinreißen lassen, der Gestalt entgegenzueilen, aber seine Furcht überwog letztendlich doch. Er rannte zu seinem Nest zurück, wo die Blüten sich wie in einer liebevollen, mütterlichen Umarmung um seinen zitternden Körper schlossen. In der Nacht, als der Sauerstoff wie Nebel von den Sternen fiel, weinte er, während das Land draußen von einer gelben Sonne träumte. Nirgendwo gab es eine Bewegung.
    Tassanein erwachte gegen Mittag. Neben der Sonne war eine weitere Supernova aufgeflammt. Der Symbiont folgte seinem Blick und sagte: »Die Sterne werden alt, Tassanein. Sie sterben. Einer nach dem anderen wird aus dem überreifen Rebstock der Milchstraße gepflückt.«
    Tassanein verspürte kein Bedürfnis, darauf eine Antwort zu geben. Ohne daß es ihm bewußt wurde, trommelten seine Finger den aufpeitschenden Takt, der der Paarung vorausging. Er dachte an die Schattenschiffe, mit denen seine Ahnen die große Leere zwischen den Leben tragenden Sterneninseln überbrückt hatten. An die Kriege mit schwarzmetallenen Insekten, an die Milliarden Gesichter, die in seinen Träumen aus der Vergangenheit auftauchten, immer dann, wenn sein Geist in den Erinnerungen seiner Rasse wühlte. Seine Augen glitten suchend über den Weltraum. Schließlich brach er eine der steinernen Blumen, in deren Adern blaues Licht glühte. Für kurze Zeit lag sie auf seiner Handfläche. Ihre Wärme zog in seinen Arm hinauf. Nachdenklich streichelten seine Pfoten über das glänzende Blatt.
    »Wenn du nun hinausgehst«, sagte der Symbiont, »bist du verloren. Sie wird dich nicht wieder gehen lassen. Das Nest und ich werden vergeblich auf dich warten. Wenn wir deine Stimme nicht mehr hören, werden wir beide sterben. Überlege dir gut, was du tust, Tassanein. Deine Rasse lebt nicht mehr. Und du könntest unsterblich werden. Tassanein, bleibe hier! Du bist ein Teil von uns!«
    Tassanein schüttelte den Kopf. Er fühlte, wie seine Fühler vor innerer Pein herabhingen. »Ich muß gehen! Wenn ich heute nicht gehe, werde ich es morgen tun. Oder übermorgen. Sie hat nach mir gerufen, und mein Geist, meine Gedanken, all das, was mich formt, bebt vor Abscheu. Das Individuum in mir will bleiben. Es wird zerrissen von deinen Worten. Aber sie rief nicht das Individuum, sondern das alte Blut in meinen Adern, die Genen. Ich bin drei Millionen Jahre alt, aber sie ist ebenso alt wie der Kosmos. Ich muß mich ihrer Macht unterwerfen.«
    Das Nest entfaltete sich, und er taumelte hinaus in die große Einsamkeit. Der Wind fegte seinen Geist leer, und irgendwo in seinem Gehirn drückte eine kleine Drüse

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