Die Tage sind gezählt
wußte, daß sie nicht in Gruppen zusammen lebten. Sie kannten nicht einmal Familien. Jeder erwachsene Afghanier ging am liebsten seine eigenen Wege. Und jetzt hatten sie sich zu Tausenden zusammengetan. Etwa, weil sie gemeinsam ihren Grund und Boden verteidigen wollten? Wenn dies so war, wieso ließen sie dann einmal gefangene Feinde wieder frei? Mit den Mordwaffen in den Händen?
Das hohe Gras, das gegen seine Hosenbeine ratschte, ärgerte Serv plötzlich. Das ängstliche Keuchen des hinter ihm gehenden jungen Soldaten fraß an seinen Nerven. Er lief unwillkürlich schneller. Warum hatte man sie laufenlassen? Was steckte dahinter?
Wollten die Afghanier damit eine Art Friedfertigkeitserklärung abgeben? Serv wandte sich um und stellte fest, daß die auf dem Hügel versammelte Menge sich wie ein Mann in Bewegung setzte.
»Allmächtiger, sie folgen uns!«
Mit weiten Sprüngen setzten die Afghanier über den Hügelkamm, goldene Pfeile gegen das frühe Sonnenlicht. Es war eine Kleinigkeit für sie, dem Führer und den Soldaten auf den Fersen zu bleiben und nebenbei noch Früchte aus den Bäumen zu pflücken.
Eine Wolke pastellfarbener Schmetterlinge flatterte vor den Schritten der fliehenden Männer auf. Serv blieb abrupt stehen.
»Was ist das?«
Ein seltsames Flattern und Wispern; ein Rauschen wie von einem unsichtbaren, aufsteigenden Vogelschwarm … Die Soldaten sahen einander an.
»Das ist doch … Es sind die Schmetterlinge! Ich höre das Schlagen ihrer Flügel!«
»Na und? Mußt du deshalb so laut schreien?«
»Du bist es, der schreit; nicht ich!«
»Zusammenbleiben und durch!« zischte Serv. Seine Ohren begannen von den wunderlichen Geräuschen zu schmerzen, und er sah, daß es den anderen genauso erging. Die Schmetterlinge verschwanden und ließen sich hinter ihnen wieder auf den Grashalmen nieder.
»Die verdammten Afghanier folgen uns immer noch.«
»Sie werden uns schon nicht beißen. Weiterlaufen!«
Warum hatte man sie freigelassen? Serv verstand es immer noch nicht. Als er in dem Netz gelegen hatte, hatte er sich dem Tode nahe gefühlt. Und jetzt … Obwohl das Tal bereits weit hinter ihnen lag, schienen sie noch immer unter seinem Eindruck zu stehen. Sie liefen und unterhielten sich dabei immer noch im Flüsterton, und das, obwohl es Serv eher nach lauten Flüchen zumute war. Das Geräusch der Schmetterlingsflügel ließ ihn nicht mehr los. Ein aufziehender Wind, kaum mehr als eine leichte Brise wurde in seinen Gehörgängen zum Heulen eines Orkans. Er fühlte sich verunsichert. Als ein Vogel an ihm vorbeiflog, zuckte er zusammen. Wie war es möglich, daß das Zwitschern eines gewöhnlichen Vogels ihn derart in Panik versetzte? Und die Männer flüsterten immer noch …
Die ersten, noch weit entfernten Geräusche eines herannahenden Unwetters durchdrangen Servs Trommelfelle mit einem unerträglichen Donnern. Er riß beide Hände vor die Ohrmuscheln und schrie auf, genau wie die anderen. Es folgten weitere Donnerschläge, und die Männer begannen vor Schmerz zu weinen. Serv taumelte, stieß einen der anderen an, und in einer panischen Reaktion schlug der Mann wie ein Rasender um sich. In einem Kreis aufgestellt schrien sie, ohne sich dagegen wehren zu können. Auch Serv. Es schien, als rase ein Ozean brüllend durch sein Gehirn, als schlüge eine wütende Brandung an seine Trommelfelle … Er fühlte, daß der Lärm ihn beinahe wahnsinnig machte. Kamen zwei Männer einander in die Quere, stießen sie sich voneinander ab. Einer der Soldaten feuerte sein ganzes Magazin gegen den Himmel …
Dann war das Unwetter vorbei, das Donnergrollen erstarb; der Himmel wurde wieder heller. Die sechs Männer lagen, die Hände gegen die Ohren gepreßt, die Gesichter im Boden vergraben, auf der Erde und weinten, als käme der Regen nicht vom Himmel, sondern aus ihren Augen. Und vom Hügel aus sahen ihnen die Afghanier zu.
Der grauköpfige Führer und die fünf Soldaten erschienen vor dem Abwehrschirm und warteten, bis der Kommandant auf dem aus Aluminium gefertigten Aussichtsturm erschien. Sie umringten Serv, als fürchteten sie, er könne sie verlassen und sie den Afghaniern ausliefern, die sich im Hintergrund zu einer dichten Hecke formierten.
»Strom ausschalten!« befahl der Kommandant. »Und paßt auf die verdammten Afghanier auf! Sie sind verflucht schnell.«
Auf das Signal »Alles klar« passierten die sechs Männer den Schirm, der hinter ihrem Rücken wieder eingeschaltet wurde.
»Was hat das zu
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