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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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gewöhnlichen Heißhungers ankündigte. Die Infizierten hatten das Gefühl, ein gewaltiges Versäumnis an Nahrungsaufnahme nachholen zu müssen, aber sobald sie mit dem Essen begannen, wurde ihnen schlecht, und sie erbrachen sich.
    Dann kam der Schlaf und früher oder später das Ende. Kinder, so fand man bald heraus, schliefen lange, bevor sie starben; als wolle die Krankheit ihnen noch einige Zeit zum Träumen gönnen. Erwachsene hatten ihre Träume schon geträumt. Sie starben stets innerhalb einer Stunde.
    Der Mann, der an dem grauen und frostigen Morgen eine Kerze an das Gesicht seines kleinen Sohnes hielt, sah, daß es vorbei war. Er hatte seit einigen Sekunden keine Atemgeräusche mehr gehört und war nun erleichtert, daß es vorüber war. Er fühlte im gleichen Moment eine bedrückende Niedergeschlagenheit. Möglicherweise war er nun der letzte Mensch auf der Erde.
    Daß er, als Bewohner einer Stadt in der Nähe des Äquators, fror – und zwar nicht aus Traurigkeit, sondern einzig und allein wegen der Winterkälte –, fand er schon lange nicht mehr seltsam. Auch wenn die Sonne noch jeden Tag zur gleichen Stunde genau so strahlend aufging wie Jahrtausende zuvor.
    Er blies die Kerze aus, weil das Sonnenlicht schnell an Intensität zunahm. Als er die Gardinen beiseite zog, wurde es Tag im Zimmer.
    Ein Polartag in den Tropen.
    Begonnen hatte es mit einem Temperaturrückgang auf der ganzen Welt, erst allmählich, dann immer schneller. Innerhalb weniger Monate war ein normales Leben nur noch in tropischen und subtropischen Zonen möglich. Der Rest der Welt wurde zum Notstandsgebiet erklärt.
    Schon damals hatte die Kälte Millionen von Todesopfern gefodert. Die Preise für feste und flüssige Heizstoffe kletterten in astronomische Höhen, und aus den nördlichen Ländern kamen Berichte von heftigen Kämpfen um Holzhäuser gerade gestorbener Mitmenschen. Bald danach trat die Krankheit auf und verbreitete sich wie ein Buschfeuer über die ganze Erde.
    Geplagt von diesem neuen Problem, hatte man die Notgebiete der Verwilderung preisgegeben. Nur in Äquatornähe gab es noch Überlebenschancen.
    Eine unkontrollierte Bevölkerungsbewegung begann, aber die meisten der Flüchtlinge wurden bereits unterwegs vom Heißhunger überfallen. Wer um Nahrung bat, wurde als Aussätziger zurückgelassen. Gespräche über das Essen galten fortan als Tabu. Gespräche über die Kälte ebenfalls, wenn auch in minderem Maße. Eigentlich sprach man überhaupt nicht mehr viel. Es wurde unglaublich viel getrunken, die Promiskuität wurde zur Sitte, Selbstmord zur wirksamsten Medizin.
    Ungeachtet dieser Tatsachen glaubten viele, daß das Unheil nur ein vorübergehendes sei. Und warum nicht? Weder hatte man im Weltraum etwas Besonderes entdecken können, noch gab es in radarweiten Fernen einen unheilbringenden Kometen zu sehen. Nur das Licht war allmählich anders geworden: noch stets gab die Sonne Strahlen von gleicher Stärke ab, aber die Wärme dieser Strahlen ließ ständig nach. Es war keinem einzigen Laboratorium gelungen, eine Erklärung für dieses Rätsel zu finden.
    Was die Krankheit betraf, so gab es für sie keine nachweisbare Ursache. Man wurde einfach bedroht von einem Geheimnis unbekannter Größe. Irdische Denkmethoden halfen hier nicht mehr weiter.
    Der Mann überlegte, ob er seinen Sohn im Garten begraben sollte, wie er es vor einigen Monaten mit seiner Frau getan hatte. Aber damals war der Boden noch ziemlich weich gewesen, und die Temperatur hatte noch zögernd um den Gefrierpunkt geschwankt. Es kam auch kaum noch Wasser aus den Hähnen. Damals hatte es hin und wieder sogar noch Elektrizität gegeben, so daß sie sich an dem lächerlichen Strahlofen hatten aufwärmen können, den er aus dem Museum herbeigeschleppt hatte. Wenigstens diesen Vorteil hatte ihm seine Position als Museumsdirektor in diesen Tagen des Untergangs geboten.
    Es erwärmte ihn, zu wissen, daß seine Frau nicht in der Kälte gestorben war. Denn außer dem Strahlofen hatte er noch einen alten Kanonenofen mit nach Haus gebracht. Sie hatten sich wie die Höhlenbewohner eingerichtet, hatten die Möbel des leerstehenden Nachbarhauses zerkleinert und die Kunst des Heizens vergangener Jahrhunderte wiederentdeckt. Eigentlich eine aufregende, atavistische Sensation. Das Kind hatte in regelmäßigen Abständen brennbare Teile in das Feuer gelegt und die Traurigkeit der Eltern mit freudigem Jauchzen unterbrochen.
    Die Frau war dann allein in die Küche gegangen

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