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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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erfahren. Jedenfalls erschrak der hinter ihnen als letzter gehende Soldat sich vor einem gackernden Vogel und fuhr, scheißgeil wie er war, mit der gezückten Waffe herum. Und das Schicksal wollte es, daß gerade in diesem Augenblick mehrere Afghanier den Pfad überquerten. Mit großen, zierlich anmutenden Bewegungen eilten sie über den Weg. Ihre seidigen Haare flogen, während ihre Silhouetten wie Schatten vor dem schummrigen Hintergrund der Bäume wirkten.
    Der erschrockene Soldat eröffnete sofort das Feuer. Die anderen taten es ihm sofort gleich. Strahlen erhellten den Abend und färbten die Schatten der Afghanier grün. Der Geruch verbrannter Haare legte sich auf Servs Sinne. Er stand wie gelähmt. Er sah, daß es einigen der Afghanier gelungen war zu entkommen, aber die meisten blieben regungslos liegen.
    »Ihr Arschlöcher!« brüllte Serv die Soldaten an. »Zu was sollte das gut sein?«
    »Stell dich nicht so an, Alter! Es war eben ein Irrtum. Wir dachten, sie wollten uns angreifen.«
    Angreifen? Die Afghanier? Man konnte sich mitten im Wald zum Schlafen niederlegen, und jeder einzelne von ihnen würde vorsichtig über einen hinwegsteigen! Angegriffen von den Afghaniern! Während Serv, vor Wut bebend, sprachlos den Kopf schüttelte, fiel vom Himmel ein Netz über sie herab. Es war aus Gras geflochten und erschien ihm so groß wie das Himmelszelt. Völlig geräuschlos fiel es aus den Baumkronen auf sie nieder, zog sich zusammen, daß sie mit an den Körper gepreßten Armen eng zusammengeschnürt dalagen. Die Gewehre waren nun nutzlos. Sie konnten sich weder befreien, noch die Flammenwerfer ziehen – und auch nicht aufstehen, da das Netz plötzlich mit großer Geschwindigkeit weggezogen wurde und sie alle über den Boden schleifte.
    Wenn sie uns nur in den nächsten Fluß werfen , dachte Serv, dann können wir noch von Glück reden.
    Aber niemand dachte daran, sie zu ertränken. Statt dessen zog man sie über den weichen Waldboden dahin, verschiedene Hügel hinauf und wieder hinab, bis die Reise schließlich in einem unbekannten Tal endete. Sie waren machtlos; zu sechst formten sie ein unentwirrbares Knäuel hilflos ineinander verstrickter Arme und Beine. Gelegentlich geriet der Schatten eines Afghaniers in Servs Blickfeld; gebogen durch den Widerstand des schweren und vollen Netzes. Welch ein Fang: sechs Menschen von der Erde.
    Als die Afghanier das Netz ruhen ließen, konnten die Männer zum erstenmal wieder Atem schöpfen. Aber schon ging es weiter, durch ein Feld violetter Blumen, die von ihrem Gewicht erdrückt wurden. Die Männer konnten sich, dort wo sie jetzt endgültig lagen, nun wieder etwas bewegen. Aber die Waffen erreichten sie immer noch nicht. Aus den vielen zerdrückten Blumen stieg ein süßlicher, betäubender Duft auf. Serv fühlte, daß sie an ihrem Ziel angelangt waren. Wie durch eine Nebelwand glaubte er die Afghanier mit weichen, fließenden Bewegungen näher kommen zu sehen. Aber die violette Brandung überspülte ihn.
    Er ging unter.
    Unter.

    Die auf seine geschlossenen Lider niederbrennende Sonne weckte Serv auf. Er fühlte, daß das Netz verschwunden war, und rollte sich herum. Auch die anderen bewegten sich nun, müde und schlaftrunken. Sie lagen immer noch in dem Blumenfeld, aber der Nachtwind hatte seinen süßen Geruch verweht. Die Afghanier hatten ihnen nichts getan. Serv verblüffte dies ein wenig.
    »Ist das denn zu fassen? Wir haben geschlafen wie die Murmeltiere!«
    »Schaut mal … unsere Gewehre. Sie haben sie uns nicht weggenommen.«
    »Aber die Biester … sie sind weg.«
    Wortlos tippte Serv dem Mann, der diese Worte von sich gegeben hatte, auf die Schulter. Er deutete in die Ferne. Dort, auf einem der Hügel, saß eine unübersehbare Menge von Afghaniern, die sie wortlos ansah. Noch nie hatte er so viele dieser Wesen auf einmal gesehen. Es mußten Tausende sein, die sich da versammelt hatten, ohne die geringste Bewegung, ohne das kleinste Geräusch.
    »Mein Gott! Sie werden uns umbringen!«
    »Sie sind doch keine Menschen«, erwiderte Serv bitter. Er erhob sich mühsam.
    »Worauf warten sie denn bloß?«
    »Und worauf warten wir?«
    Sie nahmen ihre Strahlgewehre und folgten Serv über die Ebene.
    »Glauben Sie, daß sie uns so ohne weiteres laufen lassen?« flüsterte der Soldat hinter ihm.
    »Möglicherweise sind sie so verrückt.«
    Die herrschende Stille war verblüffend. Serv begriff das nicht. Aus welchem Grund hatten sich die Afghanier hier versammelt? Er

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