Die Tage sind gezählt
und hatte dort begierig Konservendosen geöffnet. Aber er hatte es gemerkt und ihr auf der Toilette beim Erbrechen beigestanden. Er hatte das Kind schnell zu Bett gebracht, seine Frau zugedeckt und geküßt, bevor auch sie eingeschlafen war. Das Lächeln des Todes war bereits nach einer Viertelstunde gekommen. Nach sechs Uhr, als der Abend gefallen war, hatte er im kalten, dunklen Garten das Grab mit einem altmodischen Spaten ausgehoben, den er wegen eines für Fachleute schönen Markenzeichens aufbewahrte. In einer Stille, der nur die des Alls gleichkam, hatte er sie mit der einstmals fruchtbaren tropischen Erde bedeckt, auf der seit einem Monat alles verdorrt war: nirgendwo auf der Welt wuchs noch eine Pflanze, nirgendwo kroch ein Tier herum. Nur die Rasse der Menschen existierte noch. Es waren sogar einige Schwangerschaften gemeldet und Kinder geboren worden.
Aber nach und nach hatte das große Sterben zugenommen, und zuletzt hatte man einander stets wie zum letztenmal gegrüßt: »Auf Wiedersehen beim Großen Sandmann.« Sein Sohn hatte es deshalb gar nicht befremdlich gefunden, als er ihm am nächsten Morgen erzählte: »Mama? Die ist mit dem Großen Sandmann gegangen.«
Die Kälte war seitdem von Tag zu Tag schlimmer geworden. Gottlob hatten sie den Kanonenofen, um etwas Eis schmelzen oder Nahrung aus Konservendosen aufwärmen zu können. Manchmal wanderte er mit dem Kind durch die schon lange geplünderte, völlig veränderte Stadt, in der nur noch vereinzelte Fahrzeuge herumfuhren, Häuser in aller Eile oder nur halb abgerissen, Fenster- und Türrahmen herausgerissen und auf einem Brandstapel geworfen waren, um den herum sich ein Ring von Menschen schweigend die Hände wärmte.
Überall in der Stadt brannten Tag und Nacht Feuer auf den Straßen, sah man Menschen in ihrer Nähe wie die Wilden kampieren. Wer starb, den stieß man beiseite. Das Leben war weniger alltäglich geworden als der Tod.
Ob es irgendwo auf der Welt Gegenden gab, wo man der Schlafkrankheit Herr geworden war? Es war nicht wahrscheinlich. Ein paar Tage nach dem Tod seiner Frau war die Telefonverbindung ins Ausland zusammengebrochen, danach auch die Fernsehverbindung. Die Energiezentrale hatte zu arbeiten aufgehört, ebenso wie das Netz der örtlichen Sender, deren Geräusche verstummten in der Holzkohlenglut der Jahrhunderte.
An diesem Tage waren er und das Kind niemandem mehr begegnet. Einmal dachten sie, ein Gesicht zu sehen, hoch oben in einem Haus, hinter einem noch unbeschädigten Fenster, aber vielleicht war auch nur der Wunsch der Vater ihres Gedankens gewesen.
Sie hatten »Hallo! Hallo!« gerufen, aber von nirgendwoher war ein Geräusch gekommen. Und überall, wo einst die Feuer gebrannt hatten, lagen nun Stapel von Gerümpel und Leichen herum. »Warum?« hatte der Mann seinem Sohn erklärt. »Weil der Große Sandmann nicht alle zugleich holen kann.«
An jenem Tag war ein großes Unglück geschehen: der Kanonenofen war geborsten, und es war dem Mann mit knapper Not gelungen, einen Brand zu verhindern. Später erschien ihm die ganze Mühe lächerlich. Als ob es nicht genug beziehbare Häuser gäbe.
Kurze Zeit später hatte das Kind Hunger bekommen; aber der Mann, plötzlich voller Angst, der letzte Mensch der Welt zu sein, hatte ihm verboten, etwas zu essen. Statt dessen hatte er es mit auf die Straße genommen, um dort ein großes Feuer anzuzünden. Als er das Kind dann einen Augenblick allein gelassen hatte, um aus dem gegenüberliegenden Haus mehr Holz zu holen, war es verschwunden.
Panische Angst hatte ihn überfallen. Er rief und schrie. Daraufhin kam das Kind lachend aus dem eigenen Haus, mit den Fingern unbeholfen in einer geöffneten Konservendose stochernd.
»Nicht! Nicht!« hatte er geschrien. Aber es war schon zu spät. Das Kind beugte sich mit einem Male vornüber und übergab sich. Er brachte es ins Bett, und es schlief ein, noch bevor er es zugedeckt hatte. Draußen auf dem Lagerfeuer kochte er in einer alten Büchse Wasser, füllte die antiken Krüge damit und legte sie, umwickelt mit zerfetzten Decken, um den Körper des Kindes. Möglicherweise war es die Wärme, die das Kind erst zwölf Stunden später sterben ließ.
Es war eine lange Zeit, wenn man sie in der Kälte verbrachte, denn Kälte ist schlimmer als die Einsamkeit. Der Mann versöhnte sich mit dem Gedanken, daß sein Schicksal ihn ausgewählt hatte, der letzte aller Menschen zu sein, der Schlußpunkt eines sehr langen und sehr harten Kampfes
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