Die Tage sind gezählt
sagte der andere. »Komm, wir gehen in die Bibliothek, da steht Brennmaterial für Monate.«
Sie eilten nach oben, beluden begierig die Bücherwägelchen und fuhren wie besessen damit zum Keller zurück. Das Feuer erregte sie so sehr, daß selbst der Direktor nicht mehr darüber nachdachte, was er nun eigentlich in die Flammen warf. Sie arbeiteten wie die Sklaven, und langsam wich die frostige Kälte.
»Wir müssen uns einen großen Vorrat anlegen«, sagte das Männchen, »dann können wir länger hier unten bleiben, setzen uns vorʼs Feuer und werfen hin und wieder was von dem alten Plunder nach.«
Wägelchen um Wägelchen brachten sie in den Keller; später rissen sie französische Wandteppiche ab und bauten sich daraus ein hohes, feines Lager, auf das sie sich setzten, jeder mit einem Bücherstapel, von denen sie ab und zu eines ins Feuer schleuderten. Manchmal hatte der Mann seine Bedenken: bei einer seltenen Luther-Bibel, die er zur Seite legte, neben die Werke Voltaires.
Später warf er sie aus Faulheit doch noch in die Glut. Warum auch nicht? Welchen Nutzen sollten sie in einer Welt ohne Menschen noch haben? Sie waren für Menschen erdacht, geschrieben und gedruckt worden. Ohne Menschen waren sie sinnlos. Geschrieben hatte man sie für die Ewigkeit, aber die wahre Ewigkeit begann erst jetzt mit der Stille der klirrenden Kälte und der absoluten Leere. Nun waren all die Mühen und Leiden umsonst gewesen, die Bücher nichts mehr wert: sie gaben gerade genug Glut, um zwei Menschen noch für eine Weile am Leben zu erhalten.
Der Mann fühlte Hunger und dachte: Das ist dumm. Ich hätte etwas zu Essen mitnehmen sollen. Und er sagte zu dem Männchen, das schmunzelnd in einem Buch mit Abbildungen blätterte: »Hast du etwas zu essen bei dir?«
Das Männchen holte zerstreut eine Konservendose aus der Hosentasche, hielt aber plötzlich inne und musterte den anderen mit Abscheu. Konsterniert fragte es: »Du meinst doch nicht …«
»Gib es her, oder ich werfe dich raus. Dann kannst du auf der Straße erfrieren.«
»Gut«, sagte das alte Männchen ängstlich, »lieber das, als …« Es stand auf und lief eilig zur Tür, die Dosen wie das kostbarste Gut der Welt an sich pressend.
»Her damit!« rief der Jüngere und packte seinen letzten Bruder beim Nacken. Die Dosen fielen zwischen die Bücherstapel. Beide bückten sich danach, aber der Museumsdirektor war schneller.
Als er sah, daß der andere eine zweite Dose erwischen würde, schlug er mit der scharfen Kante seiner metallenen Beute auf dessen Schädel ein; so kräftig, daß die Konservendose aufsprang und das Blut des sterbenden Mannes daran haftenblieb, der nun am Boden lag, sich auf der Kalewale krümmte und dann erschlaffte.
Der andere war noch klar genug, um denken zu können: Jetzt habe ich die ganze Weltgeschichte wiederholt: Töten, um nach dem Sterben selbst leben zu können.
Er saß auf den Wandteppichen vor dem Feuer, schob seine Finger in die Konservendose und aß gierig. Es dauerte nur einen Moment, dann übergab er sich. Er tat es, ohne es zu sehen, auf das Lob der Narrheit von Erasmus. Ermüdet und vom Schlaf übermannt legte er sich vor den Ofen. Er schlief sofort ein.
Und draußen war niemand, der sehen konnte, daß vom Museum aus brauner Rauch aufstieg, geradewegs in den leeren Himmel.
Übersetzt von Siegfried Mrotzek
Paul Van Herck
Die Plagiatoren
Liliane erkannte sofort, daß mit ihm etwas nicht stimmte, als sie mit dem dampfenden Kaffeetopf in der Hand sein Arbeitszimmer betrat. Der Blick, den er ihr zuwarf, war ziemlich freundlich. Und das war ungewöhnlich – zumindest, wenn er an einem neuen Roman schrieb. Normalerweise war er unter diesen Umständen nicht ansprechbar und verließ das Büro nur, wenn ihn der Hunger dazu trieb.
Maurice Lafleur hielt mit dem Schreiben inne und schaute erwartungsvoll auf den Kaffee. Sie füllte zwei Tassen und nahm neben ihm Platz.
»Hier«, sagte Maurice, »schau dir das mal an.«
»Ich?«
»Ja klar. Hast du keine Lust? Sonst beklagst du dich immer, ich würde dich nie etwas lesen lassen.«
Das stimmte. Erneut wurde ihr bewußt, daß irgend etwas mit ihm anders war. Er hatte etwas auf dem Herzen. Und nach einigen Seiten wußte sie auch, was. Maurice schrieb an einer Autobiographie. Was natürlich eine mühsame Aufgabe für einen Menschen sein mußte, der Jahre zuvor bei einem Unfall seine gesamten Erinnerungen verloren hatte.
Sie waren damals von ihrer Hochzeitsreise aus Montreal
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