Die Tage sind gezählt
während unsagbar vieler Jahrhunderte. Er sann auf ein probates Mittel, wenigstens nicht in der Kälte sterben zu müssen, wie ein Neandertaler auf nacktem Boden. Die Idee, die ihm kam, war so bestechend und gut, daß er – in seiner Eile, sie auszuführen – beschloß, das Kind nicht zu begraben. Warum auch? Was hatte das noch für einen Zweck?
Er hüllte sich in Decken, wie es einst die Araber getan hatten, und ging auf die Straße hinaus, hin und wieder »Hallo! Hallo!« rufend; oder: »Ist da noch jemand?« Und: »Ich weiß noch ein warmes Plätzchen! Ist da noch jemand?«
Hastig, ohne sich umzudrehen, ging er zu dem im Sonnenlicht blinkenden Hügel, auf dem weiß der Betonkomplex seines Lebenswerkes lag: das Museum. Er passierte den großen Radarturm und rief automatisch: »Ist da noch jemand?«
Zu seinem Schreck hörte er gleich darauf aus der Höhe: »Hat da jemand gerufen?«
»Ja, ja!« schrie er. »Wer ist da?«
Hoch über sich sah er auf der stählernen Plattform des Turmes einen Mann stehen. Und hörte: »Du weißt noch ein warmes Plätzchen?« Er bedeutete dem Mann, nach unten zu kommen. Natürlich funktionierte der Aufzug nicht mehr, und so sah er den Mann viele Treppen heruntersteigen, langsam, viel zu langsam. Aber es war ein so himmlischer Anblick, noch einen Menschen in der leeren, geräuschlosen Welt zu sehen, daß er sich die Kälte verbiß und auf ihn wartete, auf den zweiten letzten Menschen, auf seinen Bruder.
Es war ein älterer Mann, einer jener altmodischen Menschen, die noch Pfeife rauchten.
»Wo soll das sein?« fragte der Fremde.
»Der Mann sagte: »Im Museum. Dort haben wir einen Müllverbrennungsofen. Für altes Verpackungsmaterial, Kisten, Kästen, Papier und Holzwolle und so weiter. Dort im Keller können wir es uns herrlich warm machen.«
»Prima«, sagte das Männchen. »Ich war da oben beinahe am Krepieren vor Kälte. Weißt du, bis heute morgen funktionierte die Notanlage ja noch, und ich war der einzige, derʼs wußte. Ich habe die Isolation von der Apparatur gerissen, das brachte die Temperatur ein wenig über Null, maximal bis sechzehn Grad. Es gab auch noch genug Wasser, bestimmt für einen ganzen Monat, ich saß da also ganz gut. Ich hatte sogar noch Abwechslung, jedenfalls nachts, denn um nicht aufzufallen, ließ ich das Radar nur nachts arbeiten. Weißt du, daß ich vor fünf Tagen noch Flugzeuge gesehen habe? Aber danach kam nichts mehr. Vorgestern hatte ich ein Gespräch mit einem Amateurfunker in Tokio. Er war dort der letzte. Er hatte die ganze Welt abgesucht und nirgends mehr eine Stimme finden können. Eigentlich war er überrascht, doch noch einen Kontakt zu kriegen. Er sagte, daß wir beide wahrscheinlich die beiden letzten seien. Gestern konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Jetzt sind wir beide wohl die letzten.«
Sie waren am Haupteingang des enormen Museums angekommen. Der Mann nahm einen Schlüssel und öffnete das massive, grünmetallene Tor. »Laß uns das Feuer am besten mit den Gemälden anfangen«, sagte er. »Die brennen am besten.« Er führte den anderen in eine gewaltige Halle, in der die ganze Pinakothek des Alten Westens hing.
»Herrje!« rief das alte Männchen aus. »Was haben sie mit dem gemacht?«
»Das ist Christus am Kreuz«, antwortete der Mann. »El Greco. Nie davon gehört?«
Beide nahmen sich soviel, wie sie tragen konnten. Es war eine bunte Mischung: Van Eyck, Rubens, Jan Steen. Während sie die Gemälde zum Keller hinunterschleppten, dachte der Mann: Nun geht ein Milliardenwert in den Ofen. Und mit berufsbedingter Angst: Wenn das der geschäftsführende Ausschuß wüßte …
Aber es gab keinen geschäftsführenden Ausschuß mehr. Sie beide waren die einzigen Menschen auf der Welt, die noch nach der chaotischen Fülle vergangener Jahrhunderte schauen konnten. Nein, eigentlich war er der einzige, der etwas davon verstehen konnte; all die Gemälde und die mit rauhem Tuch bespannten Rahmen sagten dem Männchen aus dem Radarturm nichts. Für ihn waren es Raritäten aus primitiven Urzeiten.
Dann dachte der Mann: Ich kann es einfach nicht tun. Ich kann doch an die Höhepunkte menschlicher Zivilisation kein Feuer legen …
Aber das Männchen war bereits dabei: Es legte einen Greco auf eine bereits prasselnde Nackte von Rubens, darauf ein Selbstbildnis von Rembrandt und sagte: »Das brennt ganz gut. Noch ʼne halbe Stunde, dann wirdʼs hier warm. Aber wir müssen noch mehr von dem Zeug holen. Das brennt so weg …«
»Bücher«,
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