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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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zu einem Tick, dass Simon sich alle paar Sekunden mit der linken Hand in den rechten Arm kniff, in den Oberschenkel oder in den Bauch, es wurde zum Ritual der Selbstvergewisserung, dass er nur sicher war, da zu sein, wenn er sich fühlte. Das also, dachte Simon, ist es, was man Gefühl nennt, Gefühl für sich selbst. Simon fiel auf, dass der Stich, der ihn durchzuckte, wenn er die Kappe abnahm, von Mal zu Mal stärker wurde und nach einer Woche schon leichter Schmerz genannt werden konnte. Auch nahm die Anzahl seiner Haare zu, die er nach dem Absetzen aus dem Innern der Kappe entfernte. Aber Simon wischte alle aufkommenden Bedenken beiseite, zu kostbar waren ihm die Stunden, in denen er sich selbst nicht sah. Was für eine Entlastung, dachte Simon, sich selbst für ein paar Stunden nicht sehen zu müssen, nicht zu sehen, wie man sich abstrampelt, wie man seinen Körper-Esel durch die Welt treibt, ohne zu wissen, warum. Er fühlte Leichtigkeit, Losgelöstheit, Linderung vom ewigen Schleppen des Körpers. Kurz: Er war glücklich.

10
    D ie Woche über hatte er zwar weiter die Zeitungen zusammengefaltet, aber keine Muße gefunden, sie zu lesen, weil er während der Fahrt nur seinen Gedanken nachhing. Auf diese Weise hatte er nicht nur die Innentaschen, sondern auch die Außentaschen des Jacketts sowie seine Aktentasche mit den Zeitungsbögen gefüllt, und als er am Samstag von der Arbeit nach Hause kam, warf er den ganzen Wust in die Tonne fürs Altpapier und fühlte sich endlich unbeschwert, bereit für den Sturz ins Neue. Simon wartete noch bis zum Abend, und während er wartete, hörte er einige Platten mit Filmmusik. Um acht Uhr setzte er die Kappe auf: Der unsichtbare Simon Bloch nahm den Zweitschlüssel zu Waltraud Kubeliks Wohnung und hielt den Atem an, als er ins Treppenhaus trat, sein Ohr an die Tür der Kubelik-Wohnung legte, nichts Verdächtiges hörte, den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, sich mit einem Ruck hineinschob, und erst dort, im dunklen Flur, atmete er wieder, wartete, aber nichts geschah. Er sah im Wohnzimmer nach: niemand. Aus der Küche hörte er Waltraud Kubeliks Stimme. Sie war also nicht allein. Egal, Simon war so weit gekommen, er vertraute der Kappe, er musste sich Gewissheit verschaffen, schleichend, geübt, gewandt, besoffen von seiner Unsichtbarkeit betrat Simon die Küche und musste feststellen, dass Frau Kubelik gar keinen Besuch hatte, sondern mit sich selbst redete. Sie saß am Küchentisch und schälte eine Banane. Simon stellte sich ihr schräg gegenüber, so, dass Frau Kubelik ihn sehen musste, wenn sie ihn denn sehen konnte. Sie reagierte nicht. Sie schälte weiter die Banane, schnitt sie klein und schob die Scheibchen Stück für Stück in den Mund. Simon setzte sich auf die Kante des Tischs, direkt in Frau Kubeliks Blickfeld. Sein Herz schlug so laut, dass er glaubte, sie müsse es hören, und er fühlte, wie sich sein Gesicht kurz zu einer Fratze verzog. Um ganz sicher zu gehen, hob Simon die Hand und machte eine Bewegung dicht vor Frau Kubeliks Augen, so nah kam er ihrem Gesicht, dass er sie beinah berührt hätte, aber Frau Kubelik kaute, schluckte, redete weiter, trank schwarz-braune Brühe, die weder wie Kaffee noch wie Kakao aussah, und rieb mit ihrem rechten Zeigefinger das Tischtuch glatt. Simons innerer Jubel über das, was geschah, drohte ihn zu überwältigen, es war ein Gefühl von Macht und Grenzenlosigkeit. Er musste sich zusammenreißen, durfte die Kontrolle nicht verlieren, keine wilde Bewegung machen, er musste leise sein. Wenn ich was vom Tisch werfe, dachte er, wenn ich hier einen Stuhl umstoße, das überlebt sie nicht, die erschrickt zu Tode. Simon schob sich vom Tisch und suchte nach einem Platz, von dem aus sich alles gut beobachten ließ. Er setzte sich auf die Eckbank. Simon achtete jetzt auf Frau Kubeliks Worte und begriff: Sie sprach mit ihrem Mann, mit dem verstorbenen Ansgar Kubelik, schien ganz in sich versunken, blickte nicht hinaus in die Welt, sondern in die Erinnerung.
    Simon blieb den ganzen Abend bei Frau Kubelik und sah ihr beim Leben zu. Es gab nicht viel zu sehen, ein langweiliges Leben, das wie abgestellt vor sich hin lief oder eben nicht lief, ein Nicht-Leben, geprägt von Dingen, die Frau Kubelik nicht tat, es war ein Leben des Wartens, des Sitzens, des Blätterns in Illustrierten, ein Leben des Aus-dem-Fenster-Schauens, des Mangels und Ausbleibens, und Simon schauderte, als er diesem Lebensvollzug zusah, eine

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