Die Tarnkappe
Frau Kubelik, und Simon zuckte zusammen. Dann aber sagte er sich: Ich kann sie nicht allein lassen, jemand muss bei ihr bleiben, und als sie im Café saßen, redete Frau Kubelik über ihr Leben, Simon gab sich Mühe, ihren Worten zu folgen, aber die waren so sprunghaft, dass er nicht viel verstand. Frau Kubelik löffelte eine halbe Pampelmuse. Dann gingen sie in den Park, Frau Kubelik setze sich mit Simon auf die Bank, lehnte ihren Kopf an seine Schulter, schlief ein, und Simon regte sich nicht, bis sie zu sich kam und sagte: »Jetzt geht es weiter.« Nachdem sie ein paar Sachen eingekauft hatten, kehrten sie heim, Simon brachte ihr die Tüten in die Küche und verabschiedete sich. Er konnte nicht umhin zu denken: endlich. Frau Kubelik sagte nichts, aber in einer plötzlichen Anwandlung fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn heftig. Simon löste sich aus der Umarmung, trat in den Flur und hätte eigentlich froh sein sollen über das, was er für Frau Kubelik getan hatte, aber ihre Abschiedstraurigkeit hatte etwas Ansteckendes, und Simon wusste plötzlich: Der heutige Tag war nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein der Einsamkeit. Da sah er Frau Kubeliks Zweitschlüssel: Er baumelte an einem Nagel direkt neben der Tür, an fast der gleichen Stelle, wo auch Simon seinen Zweitschlüssel aufbewahrt hatte. Er überlegte nicht lange, steckte ihn ein und trat ins Treppenhaus.
In den kommenden Tagen fiel es Simon ungeheuer schwer, seinen gewohnten Tagesablauf beizubehalten. Aber er wollte nicht auffallen, alles musste so weitergehen, wie er und alle anderen es gewohnt waren. Er faltete die Zeitung, fuhr zur Arbeit, grüßte seine Kollegen, setzte sich, trank ab und zu einen Schluck Kaffee, schrieb Briefe, telefonierte und freute sich den ganzen Tag darauf, am Abend zum Bahnhof zu fahren und die Kappe zu holen. Zu Hause aß er etwas, das heißt, er schlang das Essen förmlich in sich hinein, die Kappe neben ihm auf dem Tisch. Simon ließ das Geschirr stehen, ging ins Wohnzimmer, sammelte sich, als bereite er einen Sprung vom Zehn-Meter-Turm vor und stellte sich breitbeinig hin. Das Ganze wurde mehr und mehr zum Ritual. Wie er liebevoll über die Kappe strich, sie fast beschwörend ansah, kurz bevor er die Augen schloss. Wie er die Luft anhielt. Wie er die Hände hochwandern ließ. Wie er die Kappe auf den Schädel setzte. Wie die Hände noch eine Weile an der Oberfläche hafteten, als wollten sie prüfen, ob die Kappe richtig saß, nein, als wollten sie herausfinden, ob sie sich dort oben auf dem Kopf bewegte, denn genauso fühlte es sich an, wenn sie sich in ihn fräste. Simon gab der Kappe Zeit, ihr Werk zu vollenden. Er ließ die Augen so lange geschlossen, bis er sicher war, verschwunden zu sein. Und dann übte er. Abend für Abend. Bewegungen, zunächst Gehen, dann Springen, auch Auf-der-Stelle-Laufen, alles, ohne sich zu sehen, obwohl er die Augen offen ließ, er lernte schnell, verbrachte die nächsten Abende auf diese Weise, zu Hause, allein, unsichtbar, bekam ein Gespür für das Fehlen seiner selbst, verlor die Angst vorm Verschwinden, im Gegenteil, das Abtauchen unter der Kappe wurde zum ersehnten Höhepunkt des Tages, Simon bewegte sich immer freier unter der Kappe, sprang auf Stühle, auf den Tisch, aufs Sofa, robbte, balancierte, wippte, schlug Purzelbäume, tat alles, was er mit seinem sichtbaren Körper ohne Schwierigkeit zu tun in der Lage war. Ein merkwürdiges neues Körpergefühl, das er lernen musste. So etwas wie die Anwesenheit des Abwesenden. Er spielte auch Klavier unter der Kappe, und während er spielte, hatte er das Gefühl, dass nicht mehr er es war, der spielte, sondern etwas anderes in ihm. Er versuchte die Musik festzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Wollte er unter der Kappe die Noten aufs Papier malen, störte er sich am frei in der Luft schwebenden Bleistift; nahm er die Kappe ab, verschwanden die Melodien in dem Augenblick, da er sich selbst wieder sehen konnte. Er dachte viel nach in diesen Tagen, über sich, über seinen Körper, über das, was ihm bislang als so selbstverständlich erschienen war. Was hatte er früher gemeint, wenn er von Ich sprach? Seinen Körper? Seinen Geist? Das Bewusstsein seiner selbst? Wie viel Selbstbewusstsein steckte im Körper? Wie viel im Geist? Seinen Körper hatte er immer sehen können, seinen Geist nie. Mit Ich hatte er aber beides gemeint: Körper und Geist. Jetzt war auch der Körper nicht sichtbar, doch immerhin fühlbar, und es wurde
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