Die Tarnkappe
Lebensvollzugsanstalt, so nannte er Frau Kubeliks Wohnung, und das einzig Nennenswerte war das Gespräch mit ihrem verstorbenen Mann, denn Frau Kubelik ging wie selbstverständlich davon aus, dass Ansgar noch bei ihr war, hier, in ihrer Wohnung. Gewöhnliche Dinge erzählte Frau Kubelik, etwas, was sie gelesen hatte, in den Illustrierten, belanglose Geschichten, sie glich einer Gefängnisinsassin in Isolationshaft, die ab und zu mit sich selbst reden muss, Zunge bewegen, Lippen befeuchten, Worte nach draußen schaufeln, egal zu wem, nur irgendwohin, weil die angestauten Gedanken das Innere zu verschütten drohen, weil all das Unausgesprochene zu einer Last wird, die abgetragen werden muss, in die Halde der Welt gekippt, um nicht dran zu ersticken. Je länger Simon zuhörte, umso trauriger wurde er. Durch das eingleisige Gespräch schimmerte das Unbeantwortete, das Schweigen, der Tod des Gatten, die gesagten Worte blieben einsam zurück, wie ausgesetzte Hunde, dachte Simon und stellte sich ausgesetzte Hunde vor, die auf dem Rastplatz winseln, sich in alle Richtungen drehen und nicht wissen, wohin sie sollen, Hunde, die bellen, die sich hinlegen und ängstlich auf die Rückkehr ihrer Herrchen warten, Hunde, die zusammenzucken, bei jedem Geräusch, aber noch nicht wissen, dass man sie verlassen hat, für immer, dass nichts und niemand mehr kommen wird, höchstens ein Hundefänger, um sie in ein Heim zu bringen oder aber: Einschläferung. Simon blieb länger, als er es sich vorgenommen hatte. Er beobachtete Frau Kubelik beim Abendbrot, sah zu, wie sie eine Stulle schmierte. Die Häppchen zwischen die Lippen schob. Darauf herumkaute. Wasser trank. Die Hände in den Schoß legte. Auf die Uhr sah. Das Geschirr in die Maschine räumte. Die Krümel mit der Fingerspitze auflas. Die Fingerspitze in den Mund steckte. Den Tisch gründlich abwischte. Dann ging sie ins Bad. Die alte Frau stand vorm Waschbecken, pflückte ihr Gebiss aus dem Mund, ließ Wasser in ein Glas laufen und warf eine Tablette hinein, die sich zischend auflöste. Wie die Restlebenszeit, die ihr noch bleibt, dachte Simon, ein kurzes Sprudeln noch, dann ist es vorbei. Mit zahnlosen Lippen machte Frau Kubelik kauende Bewegungen, als steckten ihr noch Essensreste in den Backentaschen, aber im Grunde kaute sie nur auf ihrem Zahnfleisch. Dieser Mund sah jetzt schrecklich eingefallen aus, furchtbar schlabbrig, so ganz ohne Zähne. Als Frau Kubelik sich zu entkleiden begann, ging Simon ins Schlafzimmer. Er setzte sich neben das Bett auf einen Stuhl und wartete. Bald erschien Frau Kubelik, ein Nachthemd über den Körper geworfen. Und es geschah etwas, womit Simon nicht gerechnet hatte. Nach einem Gesätz Rosenkranz, nach Abendgebet und Befeuchten von Stirn, Brust und Schultern mit Wasser aus dem zuckerdosengroßen Weihwasserschälchen an der Wand, da geschah es, dass Frau Kubelik, obschon bereits im biblischen Alter, fast ruckartig den Zeigefinger, der vom Weihwasser noch feucht war, unter die Bettdecke schob, um dort etwas zu tun, das sich dem Blick Simons entzog, der immer noch auf dem Stuhl neben dem Bett saß und den leisen Zuckungen zusah, die das Gesicht Frau Kubeliks zerfurchten. Niemals hätte Simon für möglich gehalten, dass eine alte Frau noch tat, was sie da tat, wenn auch alles seltsam verkleistert geschah. Als es vorbei war, öffnete Frau Kubelik ihre während des Akts geschlossenen Augen und drehte sich zur leeren Seite des Doppelbetts, das heißt, zu ihrem Mann, Ansgar, und sagte mit einer durch das Fehlen der Zähne matschig klingenden Stimme: »Mensch, Ansgar, du wilder Hund, du wilder!« Frau Kubelik schlug die Rückseite ihrer Hand sanft und spielerisch ins neben ihr liegende Kissen, noch einmal machte sie schnell das Kreuzzeichen, ehe sie ihre Lippen öffnete und »Gute Nacht, Ansgar!« sagte.
In diesem Augenblick beging Simon Bloch seinen ersten Fehler unter der Kappe. Er hätte später gar nicht mehr sagen können, wie es dazu gekommen war, vielleicht lag es an seiner Erleichterung darüber, dass der Abend einen so versöhnlichen Ausklang genommen hatte, oder daran, dass er Frau Kubelik ein wenig trösten wollte in ihrem verstorbenen halben Leben, vielleicht lag es auch daran, dass er sich seiner Unsichtbarkeit in den letzten Stunden allzu sicher geworden war, jedenfalls gab Simon eine Antwort. Das heißt: Er sprach. Er nahm die Rolle des verstorbenen Ansgar ein. Er sagte laut und deutlich: »Gute Nacht, Waltraud!« Simons Worte standen hart
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