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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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ununterbrochen. Wohl um zu verhindern, dass Simon weitere Fragen stellte. Das Sehen scheint uns als Sicherstes, die Wahrnehmung als Gegebenes, die Wirklichkeit als vom Augenapparat Begründetes. Ob es so etwas wie ein Urauge gegeben hat? Die Evolution hätte ansonsten das Auge etwa vierzig bis sechzig Mal neu hervorbringen müssen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass ein einziges Urauge am Anfang gestanden haben soll für all die verschiedenen Augen, die es heute gibt: die Facettenaugen einer Fliege, die acht Augen der Tarantel, die Stielaugen der Kegelschnecke, die Teleskopaugen einiger Muscheln, Eulenaugen, Falkenaugen, Adleraugen, Lochaugen, Becheraugen, Grubenaugen, Linsenaugen, Haiaugen, Carstens leere Augen. Gregor schwankte zwischen einem sachlichen, analytischen Ton und kurzen, emotionalen Ausbrüchen, ereiferte sich plötzlich, als er vom Ursprung der Menschen sprach, Nachfahren von rattenähnlichen Säugern, die nur überlebten, weil sie eine Nische gesucht hatten, in unterirdischen Lebensräumen, lichtscheue Kreaturen, warmblütig, was dazu führte, dass sie im Gegensatz zu den Sauriern die Kälte überlebten, die sich ausbreitete, nach diesem Meteoriteneinschlag vor fünfundsechzig Millionen Jahren, der die Saurier hinwegraffte, unter der Erde krochen sie herum, die Ratten, die Vorfahren der Menschen, unter der Erde enden die Menschen auch heute noch, sagte Gregor, fraßen einst Wurzeln und Würmer und werden heute von Wurzeln und Würmern vertilgt und aufgesaugt, und weil sie unten hausten, brauchten die Rattenwesen keine Farbwahrnehmung, nahmen alles nur schwarzweiß wahr, hell, dunkel, Bewegung, erkannten weder Farben noch UV -Licht noch polarisierendes Licht. Nachdem die Saurier verschwunden waren, krochen die Rattensäuger aus den Höhlen und entwickelten sich zu höheren Lebewesen, zu Primaten, die Augen der Primaten bildeten einen neuen Zapfen aus, um das Drei-Farb-Sehen zu lernen, genetische Mutationen erlaubten es ihnen, Rot und Grün zu unterscheiden. Aber in Tausenden von Jahren ist es möglich, dass der Mensch einen vierten Zapfen ausbilden wird, der ihm erlaubt, die Welt in einem völlig anderen Licht zu sehen, vielleicht ist dann alles, was wir erkennen und wovon wir glauben, es entspräche der Wahrheit, in eine ganz andere Farbe getaucht, in eine ganz andere Form gehüllt. Vielleicht sehen wir dann Dinge, die wir jetzt nicht sehen. Die Falken! Sie sind in der Lage, mit der einen Sehgrube ihr Ziel zu fixieren und mit der anderen den Ort zu markieren und die Geschwindigkeit abzuschätzen. Sie sehen alles anders als wir. Sie verfügen über Rezeptoren für UV -Licht. Sie nehmen nicht die Mäuse wahr, die in den Gräsern rascheln, sondern den Mäuse-Urin. Sie folgen der Urinspur und warten, bis die Maus sich verrät. Aber wenn der Falke den Urin auf dem Boden sieht, und wenn Taube, Spinne und Käfer die Muster aus polarisiertem Licht sehen, wer sieht dann die Welt so, wie sie wirklich ist? Es ging nie darum, Lebewesen zu entwickeln, die so was wie Wahrheit wahrnehmen. Das war nie Absicht der Evolution, die Evolution hat nie eine Absicht gehabt. Es ging immer nur um Informationen, die man fürs Überleben braucht. Das Auge soll nur das auswählen, was wichtig ist. Die Wahrheit ist scheißegal. Die Wahrheit ist eine menschliche Kategorie, die vollkommen sinnlos ist. Die einzige Kategorie, die zählt, heißt Effektivität. »Die Wahrheit will auch keiner wissen, verstehst du, ich hab Politiker belauscht, ich hab Manager belauscht, ich hab Bankenbosse belauscht, ich hab gedacht, ich bringe den Menschen die Wahrheit, ich sage ihnen, was Sache ist, es ist alles viel schlimmer, als sich der zynischste Aktivist vorstellen kann, ich habe den Menschen gesagt, was hinter ihren Rücken geredet wird, aber keiner hat die Wahrheit hören wollen. Man kann eher die Rotation der Erde anhalten, als die ewige Rotation in den Köpfen der Menschen, Gedanken, die kleben bleiben wollen am Gewonnenen, am Liebgewonnenen, im Spinnennetz des Eigenen. Lieber blind als wissend. Lieber blinden Auges ins Verderben als sehenden Auges. Man kann ohnehin nichts mehr ändern. Es wird alles so kommen, wie es kommen wird. Das zeigte mir die Kappe. Sie hat mich, weiß nicht, wie ich das sagen soll, ich tat nichts mehr selber. Kennst du das? Ich weiß durchaus nicht, was ich tue ! Ich weiß durchaus nicht, was ich tun soll ! – Du hast recht, aber zweifle nicht daran: du wirst getan ! In jedem Augenblick! Die Menschheit hat zu allen

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