Die Tatarin
geschnitzt. Sie hatte unter seiner Führung sowohl in Finnland wie auch in Ingermanland gegen Lybeckers Truppen gekämpft und nicht feststellen können, dass die Schweden ihm an Mut und Geschicklichkeit überlegen waren. Ganz im Gegenteil – keiner dieser Löwen aus Mitternacht, wie sie sich selbst stolz nannten, hatteihrem Hauptmann das Wasser reichen können. Schirin fühlte eine Sehnsucht nach Sergej in sich aufsteigen, die sie nie für möglich gehalten hätte, und wünschte sich mehr als alles andere, jetzt bei ihm zu sein, um mit ihm sprechen und lachen zu können. Aber ihr war schmerzhaft klar, dass sie ihn wohl niemals mehr wieder sehen würde, und daran war nur ihre eigene Dummheit schuld.
Svensson führte den Trupp die große Lagergasse entlang und ließ den unerwarteten Gästen dabei Zeit, sich umzusehen. Da Schirin in der Nemezkaja Sloboda, der deutschen Vorstadt Moskaus, und in Sankt Petersburg die Augen aufgehalten und vieles gehört und erfahren hatte, konnte sie nicht nur erkennen, dass die meisten Zelte noch keinen Winter mitgemacht hatten, sondern auch an gewissen Zeichen unten auf den Zeltwänden ablesen, dass sie aus sächsischen Manufakturen stammten. Der Kurfürst der Sachsen, den man August den Starken nannte, hatte seinem Beinamen im Krieg gegen den zwölften Carl wenig Ehre gemacht und der Ausplünderung seines Landes hilflos zugesehen. Sergej hatte öfter über diesen Fürsten gespottet, und Schirin empfand ebenfalls wenig Achtung vor einem Herrscher, der seine Siege nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Bett errungen haben sollte. Sergejs Worten zufolge ließen sich die Huren und Mätressen, die sich dem Sachsen hingaben, für ihre Bereitwilligkeit fürstlich bezahlen. Das erinnerte Schirin an die kleine französische Hure, die sie in Sankt Petersburg kennen gelernt hatte. Sie konnte sich an deren Namen nicht mehr erinnern, doch auch diese Frau hatte gehofft, durch den Verkauf ihres Körpers genügend Geld zu verdienen, um später als geachtete Dame auftreten zu können. Schirin schüttelte es bei dem Gedanken, und sie sagte sich, dass sie lieber ein untergeordneter Offizier im russischen Heer bleiben würde, als so beschmutzt vor Allahs Antlitz treten zu müssen. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie ihre Karriere als Fähnrich mit ihrer Flucht bereits ruiniert hatte und einer ungewissen Zukunft entgegensah. Aber bevor sie sich weiteren Selbstvorwürfen hingeben konnte, wurde sie durch einen rauen Zwischenruf aufgeschreckt.
»He, Svensson! Was bringst du uns denn da ins Lager? Gefangene sollen gefälligst zu Fuß gehen und keine Waffen tragen!« Mit diesen Worten trat ein hoch aufgeschossener Offizier dem Zug in den Weg. Er trug einen dunkelblauen Rock mit schäbigen Epauletten und Messingknöpfen, eine gelbe Lederweste, lehmverschmierte Lederhandschuhe und beinahe hüfthohe Stiefel, deren Farbe man unter der Dreckkruste nicht mehr erkennen konnte. Seine linke Hand lag auf dem schlichten Metallgriff eines langen Degens, und seine Rechte hatte er mit dem Daumen im Gürtel verhakt.
Svensson schien samt seinem Pferd für mehrere Augenblicke zu einem Standbild zu erstarren. Dann riss er die rechte Hand hoch und salutierte. »Euer Majestät, dies sind keine Gefangenen. Diese Männer sind von selber gekommen und haben sich durch eine Kosakenschar gekämpft, um uns zu erreichen.«
Schirin fand das Wort Kampf reichlich übertrieben, schließlich war es nur ein Niedermetzeln argloser Männer gewesen. Erst als Svensson weitersprach und Bericht erstattete, begriff sie, wem sie gegenüberstand. Dieser schlanke, nachlässig gekleidete Mann mit dem langen Kinn und dem nach oben gekämmten Blondhaar war Carl XII., König von Schweden und Todfeind des Zaren Pjotr Alexejewitsch. Obwohl beide wenig Wert auf ihre Garderobe zu legen schienen, unterschieden sie sich nicht nur in ihrem Äußeren, sondern auch in ihrem Wesen. Während der Zar rastlos wirkte und sich Gedanken über alles und jedes in Russland machte, schien Carl XII. vor allem eines darstellen zu wollen: Soldat und Feldherr. Er musterte Kirilins Gruppe mit einem arroganten Blick. Dabei schien er die Überläufer so wenig ernst zu nehmen, dass er sich nicht an den Schusswaffen störte, die man der Gruppe bisher noch nicht abgenommen hatte. Dabei hätte jeder von ihnen auf den König anlegen und ihn niederstrecken können.
Schnell versammelte sich eine Anzahl schwedischer Soldaten um die Truppe. Es handelte sich fast ausnahmslos um
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