Die Tatarin
zurück.
Wanja starrte ihnen verblüfft nach. »Wollen die etwa abhauen?« Sergej kratzte sich am Kopf. Doch bevor er eine Antwort geben konnte, klang hinter ihm die Stimme des Zaren auf.
»Die fliehen nicht, sondern reiten zum Sotsch, um den Übergang zu sichern. Wenn es uns jetzt gelingt, die Wagen vorher aufzuhalten, haben wir unser Ziel erreicht.« Pjotr Alexejewitsch wies zufrieden auf die unzähligen brennenden Wägen. »Carl XII. wird vergebens auf seinen Nachschub warten, und ich kann nicht sagen, dass mich das traurig macht.«
Die umstehenden Männer lachten über diese Bemerkung, und als an diesem Tag der Abend graute, herrschte trotz aller Verluste und Schmerzen eine große Fröhlichkeit im russischen Lager. Bei den Schweden aber blieb es totenstill.
Obwohl Sergej zum Umfallen müde war, fand er lange keinen Schlaf, denn er kämpfte gegen eine Angst an, die seinen ganzen Körper in scharfen Klauen hielt. Es war nicht mehr das Grauen vor den Schweden, das ihn seit Narwa verfolgt hatte, sondern die Sorge um Bahadur, die ihn keine Ruhe finden ließ. Späher hatten herausgefunden, dass sich Kirilins Leute noch immer beim Heer Carls XII. aufhielten, und wenn der Nachschub ausblieb, den General Lewenhaupt hätte bringen sollen, würden die Deserteure wohl als Erste unter dem Mangel leiden müssen. Es tat Sergej um den Jungen Leid, und er betete, dass dieser eine Möglichkeit fand, die Schweden und auch den westlich des Urals liegenden Teil Russlands zu verlassen. Der Zorn des Zaren war oft maßlos, und Sergej mochte sich nicht einmal vorstellen, was Pjotr Alexejewitsch mit Bahadur anstellen würde, sollte dieser ihm in die Hände geraten.
Als Sergej am nächsten Morgen aufstand und sich zum Kampf vorbereitete, empfand er immer noch mehr Angst um Bahadur als um sich selbst und betete zu Gott und der Heiligen Jungfrau von Kasan, den jungen Tataren zu beschützen. Seine Männer fanden ihn seltsam still und in sich gekehrt, schrieben es aber dem bevorstehenden Kampf zu. Doch es kam zu keiner Schlacht, ja nicht einmal zu einem Scharmützel, denn als sie sich dem schwedischen Lager näherten, fanden sie es verlassen vor. Die meisten Wagen waren verbrannt, aber es standen noch genug unversehrt herum. Selbst bei den Kanonen waren die Nägelmeist nur unzureichend ins Zündloch geschlagen worden und ließen sich ohne Schaden wieder entfernen.
Verwundert, dass kein einziger feindlicher Schuss fiel, winkte der Zar Sergej zu sich. »Schwing dich mit deinen Steppenteufeln in die Sättel, und finde die Schweden. Die Armee bleibt unterdessen in voller Alarmbereitschaft.« Der letzte Satz galt Menschikow, der diesen Befehl sofort an seine Regimentskommandeure weiterleiten ließ.
Sergej trieb Moschka mit einem Zungenschnalzen an und fragte sich, ob er wohl dabei war, in eine vorbereitete Falle des Feindes zu tappen. Vorsichtig sichernd ritten er und seine Männer nach Osten, bereit, sich jederzeit in die Büsche zu schlagen. Doch zunächst blieb alles ruhig. Als im Wald der Piff eines Pirols aufklang, zuckte Sergej zusammen und hätte beinahe die Pistole abgeschossen. Nervös folgte er den sichtbaren Spuren der Schweden, die auf ihrem Weg noch weitere Teile ihrer Bagage zurückgelassen hatten, und erreichte drei Stunden später den Sotsch. Auf einem kleinen Hügel einen halben Werst vom Ufer entfernt befahl er Halt und starrte verblüfft auf das Bild, das sich ihm bot. Lewenhaupts Heer, oder besser gesagt, die Reste, die von ihm übrig geblieben waren, setzten so hastig über den Fluss, als wären sie auf der Flucht. Die Kavallerie und der größte Teil der Infanterie befanden sich bereits am anderen Ufer, und es war deutlich zu erkennen, dass sie dort kein Lager beziehen wollten.
»Ich glaub, ich traue meinen Augen nicht! Die Schweden ziehen den Schwanz ein.« Wanjas Unterkiefer hing herab, und er tippte sich an den Kopf. Sergej klopfte ihm mit grimmigem Lachen auf die Schulter, denn es war ihm, als rutsche die Last, die seit Narwa auf seiner Seele gelegen hatte, endgültig zu Boden. Er wies seine Leute an, in Deckung zu gehen, blieb selbst aber stehen, obwohl man ihn bemerkt hatte, und beobachtete den schlecht geordneten Rückzug, bis auch der letzte blau uniformierte Mann auf das gegenüberliegenden Ufer des Sotsch kletterte und das Heer trotz der spätenNachmittagsstunde weiterzog. Dann schüttelte er sich, als sei er aus einem Traum erwacht, rief seine Männer zusammen, die so gemütlich lagerten, als befänden sie
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