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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sich mitten im Frieden, und kehrte zum Hauptheer zurück.
    Noch ehe es in Sicht kam, hörte er Singen, trunkenes Lachen und Grölen, so als würde ein großes Fest gefeiert. Besorgt ritt er weiter und sah, dass man sich nicht die Mühe gemacht hatte, ein eigenes Lager aufzuschlagen, sondern das von den Schweden geräumte bei dem völlig zerstörten Dörfchen Lesnaja bezogen hatte. Bei der Plünderung der unversehrt gebliebenen Wagen waren die Leute auf Schnaps gestoßen, und Sergej sah nun die meisten Soldaten irgendwo auf dem Boden herumsitzen und große Steingutflaschen an sich drücken, aus der sie von Zeit zu Zeit einen Schluck nahmen. Ihre Mienen wirkten so gelöst und glücklich, als hätten sie eben einen Blick in das Himmelreich getan.
    Kaum hatte Sergej die ebenfalls betrunkenen Wachen passiert, die ihm nur ein paar dumme Bemerkungen zugerufen hatten, kam der Zar mit kalkweißem Gesicht auf ihn zu. »Wo sind die Schweden?« Offensichtlich hatte er Angst, seine Leute wären einem gut vorbereiteten Trick zum Opfer gefallen und Lewenhaupts Heer könne jeden Moment erscheinen und seine kampfunfähigen Soldaten niedermetzeln.
    Sergej sprang aus dem Sattel und nahm Haltung an, konnte seine Erleichterung jedoch nicht verbergen. »Die Schweden haben mit allen Mann den Sotsch überschritten und ziehen eilig nach Osten weiter!«
    »Stimmt das auch?«, fragte Menschikow, der wie ein Schatten neben dem Zaren aufgetaucht war. Als Sergej bejahte, atmeten beide erleichtert auf. Menschikow umarmte Sergej und küsste ihn auf beide Wangen, dann lief er zu einem der Wagen und kehrte mit drei Flaschen Aquavit zurück.
    »Jetzt können auch wir feiern! Bei Gott, wäre dieser Lewenhaupt zurückgekommen und über uns hergefallen, hätte er aus seiner Niederlage noch einen grandiosen Sieg machen können! Es war unmöglich,die Kerle von dem Zeug fern zu halten. Hätte ich mich ihnen in den Weg gestellt, wäre ich in Stücke gerissen worden.«
    Der Zar nahm eine Flasche entgegen und entkorkte sie mit den Zähnen, starrte dann aber sinnend vor sich hin. »Ich hätte an Lewenhaupts Stelle kehrt gemacht. Aber er kennt uns Russen nicht, und das ist ein großer Fehler. Trinken wir auf Mütterchen Russland und den Sieg!« Mit diesen Worten setzte er die Flasche an den Mund und schloss sich dem allgemeinen Besäufnis an.

IX.
    Für Kirilins Leute änderte sich die Situation auch auf dem Marsch nicht. Die Schweden behandelten sie wie ein lästiges Gepäckstück, das nicht zurückgelassen werden darf, und ließen sie angesichts der sich weiterhin zurückziehenden Armee des Zaren die Verachtung spüren, die jeder schwedische Soldat in Carls Heer für die Russen empfand. Kirilin selbst genoss ein etwas höheres Ansehen und wurde öfter zum König gerufen, um diesem all seine Informationen über die russischen Truppen preiszugeben.
    Schirin hatte sich mit den Verhältnissen so weit abgefunden, wie die Umstände es zuließen, sah aber jetzt eine weitere Gefahr für sich heraufziehen. Nachdem ihre Mondtage seit einigen Monaten ausgeblieben waren, hatte der Blutfluss nun mit doppelter Heftigkeit eingesetzt, und das allgegenwärtige Misstrauen der Schweden machte es ihr fast unmöglich, sich unauffällig mit den Dingen zu versorgen, die sie dafür brauchte. Sie sah auch kaum eine Chance, die benutzten Binden aus Moos und Rindenbast ungesehen ins Feuer zu werfen.
    Ihr Blick wanderte sehnsüchtig über die hellen Birkenwälder, die die Straße säumten, und sie kämpfte mit sich, ob sie es wagen konnte, abzusteigen und nach trockenem Moos und saugfähigen Farnen zu suchen. Als der Heereszug gegen Mittag anhielt, nahm sie die Gelegenheit wahr und stieg aus dem Sattel. Da Goldfell wie ein Hund auf ihren Pfiff reagierte, brauchte sie ihn nirgends anzubinden. Sie strich ihm über die Kruppe, wandte sich dann an eine der Wachen, die sie und die anderen an der Flucht hindern sollten, und deutete auf den Wald.
    »Ich muss mal in die Büsche«, sagte sie auf Russisch, obwohl sie wusste, dass der Mann ebenso wie seine Kameraden bisher kein Wort dieser von ihnen verachteten Sprache gelernt hatte. Ihre Gestenwaren jedoch so beredt, dass er sein kräftiges Gebiss zu einem Grinsen entblößte.
    »Bleibe aber nicht zu lange weg«, warnte er sie auf Schwedisch und unterstrich die Worte ebenfalls mit Gesten, so als habe er einen Schwachsinnigen vor sich.
    Schirin nickte und tauchte dann in das Grün und Weiß des Birkenwäldchens ein. Sie musste länger suchen, bis

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