Die Tatarin
nach Nahrung aussah. Zuletzt kochten die Soldaten sogar das Leder ihrer Schuhe und banden sich stattdessen Lappen um die Füße. Vielen erfroren Zehen und Finger, anderen Ohren oder Nasen, und manchen sogar der Stolz jedes Mannes, denn die fadenscheinigen Hosen konnten die Kälte nicht mehr abhalten. Tausende fielen Krankheiten zum Opfer, die Hunger und Entkräftung beschleunigten, die meisten aber erlagen den eisigen Temperaturen.
Schirin musste all ihre Instinkte und ihr Wissen als Tochter der Steppe einsetzen, um dem Tod durch Verhungern oder Erfrieren zu entgehen. Als Kind hatte sie gelernt, wie man jene Stellen ausfindig macht, an denen der Schnee nicht allzu tief lag und man essbare Wurzeln und Knollen ausgraben konnte. Nicht lange aber, da suchten auch andere an diesen Stellen nach Nahrung, so dass sie sich gezwungen sah, neue Quellen zu erschließen. So ging sie dazu über, Baumschwämme und das Innere bestimmter Rinden zu kauen und die steinhart gefrorene Erde an kaum sichtbaren Frostrissen aufzubrechen, um an die Vorratslagerder Feldhamster zu gelangen. Dabei erbeutete sie das eine oder andere Mal auch eines der Tiere selbst und aß die Maden und Würmer, die ihr beim Graben in die Hände fielen. Auch fing sie Mäuse und andere kleine Waldtiere in simplen Fallen oder nahm sie einfach aus ihren Nestern und verspeiste sie wie alles andere an Ort und Stelle roh, denn im Lager hätte man ihr die Beute abgenommen. So gelang es ihr, sich besser zu ernähren als die Schweden oder Kirilins Leute, von denen ebenfalls ein Drittel elend zugrunde ging. Ilgur und seine beiden besten Freunde konnten sich ähnlich gut ernähren wie sie, denn Bödr legte ebenfalls eine ungewöhnliche Findigkeit an den Tag, sich und die drei anderen mit Nahrung zu versorgen.
Wahrscheinlich wären weitaus weniger Männer dem Winter zum Opfer gefallen, dachte Schirin, wenn König Carl sich nicht lange geweigert hätte, ein festes Winterquartier zu beziehen. Trotz der Kälte hatte er sein Heer wochenlang kreuz und quer durch das tief verschneite Land geführt, immer in der Hoffnung, die Kosaken würden sich, wie Masepa es angekündet hatte, gegen den Zaren erheben und ihn mit Vorräten versorgen. Stattdessen aber hatten die Ukrainer ihre Städte vor ihm verschlossen und auf dem flachen Land sich selbst und ihre Vorräte vor seinen Truppen versteckt. Viel zu spät hatte der König eingesehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Im Heer erzählte man sich, der König habe den Ernst der Lage erst erkannt, als er bei einer nächtlichen Kontrolle der Wachen auf einen Grenadier gestoßen war, der nicht vor ihm salutierte. Zur Rede gestellt hatte der Mann nicht geantwortet und war nach einem heftigen Stoß des Königs einfach umgekippt. Erst in dem Moment hatten Carl XII. und seine Begleiter begriffen, dass der Soldat auf seinem Posten erfroren war.
Schirin streifte die Erinnerungen ab und blickte wieder auf die Stadt, über deren Türmen wie zum Hohn für die Schweden das Zarenbanner wehte. Die Besatzung war im Vergleich zu dem trotz aller Verluste noch kopfstarken schwedischen Heer lächerlich gering, doch die Belagerer besaßen kaum noch Pulver für ihre Geschütze und konnten daher keine Bresche in die Mauern schießen. Der Versuch, eines derTore durch ein heimlich in der Nacht an seinem Fuß deponiertes Pulverfässchen zu sprengen, war misslungen, weil das Pulver nicht gezündet hatte, und nun achteten die Verteidiger sorgfältig darauf, dass kein Schwede den Tortürmen zu nahe kam.
Sie schreckte auf, als Ilgur auf sie zukam und in Richtung der Stadt ausspie. »Heh, Bahadur, was starrst du das Nest da vorne so giftig an? Glaubst du, du könntest die Mauern mit deinen Augen zum Einsturz bringen?«
Schirin zog die Mundwinkel nach unten und stemmte die Hände in die Hüften. »Weniger Wirkung als die schwedischen Kanonen haben meine Blicke auch nicht.«
»Du hast Recht. Es ist sinnlos, Poltawa noch länger zu belagern. Stürmen können die Schweden die Stadt nicht, denn ihre Soldaten würden im Hagel des Kartätschenfeuers krepieren. Ihren Kanonen fehlt das Pulver. Aushungern geht auch nicht, weil das Kosaken- und Russengesindel da drinnen über weitaus mehr Vorräte verfügt als wir. Der König hätte seine Truppen längst schon ins Osmanische Reich oder auf die Krim führen müssen, um sich dort ausrüsten zu lassen und den Krieg gegen den Zaren zusammen mit Türken und Tataren weiterzuführen.« Ilgur plapperte nur nach, was viele der
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