Die Tatarin
schwedischen Offiziere sagten, wenn der König nicht in der Nähe war. Carl XII. die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wagte niemand mehr, seit er einen seiner Ratgeber, der ihm diesen Vorschlag vor vieler Ohren gemacht hatte, niedergeschlagen und degradiert hatte. Der Schwede wollte die Truppen des Zaren aus eigener Kraft besiegen und seinen Ruhm nicht mit anderen teilen.
Schirin schob die Unterlippe vor. »Mach du doch dem König diesen Vorschlag.«
Ilgur antwortete mit einem wüsten russischen Fluch, den er von Kirilins Grenadieren gelernt hatte und der jedem anderen weiblichen Wesen das Blut in die Wangen getrieben hätte. Schirin aber schüttelte nur den Kopf und fragte sich, warum Männer immer dann, wenn etwas schief zu laufen drohte, ordinär werden mussten.
»Ich soll dich holen«, sagte Ilgur ganz unvermittelt. »Kirilin kam eben vom König und möchte mit uns reden.«
Schirin sah ihm an, dass das Gespräch ihres Anführers mit Carl XII. nicht sonderlich erfolgreich verlaufen sein musste, und war neugierig, was Kirilin zu berichten hatte. Daher drehte sie Poltawa den Rücken zu und folgte Ilgur in den Teil des schwedischen Feldlagers, den man ihnen zugewiesen hatte.
Kirilins Kompanie war auf weniger als fünfzig Mann zusammengeschmolzen, aber wenigstens wurden die Leute nun wie Verbündete und nicht mehr wie Gefangene behandelt. Man hatte ihnen sämtliche Waffen zurückgegeben und sie einschließlich der überlebenden Sibirier in den normalen Felddienst eingegliedert. Ilgur galt als Unteroffizier, und Schirin nahm auch hier den Rang eines Fähnrichs ein. Sie wurde aber von den ranggleichen Russen eifersüchtig beiseite gedrängt, weil diese sich ärgerten, dass Kirilin den Tatarenbengel in den Kreis seiner engsten Vertrauten aufgenommen hatte. Für Schirin war das beinahe familiäre Verhalten des ehemaligen Grenadierhauptmanns ihr gegenüber jedoch keine Auszeichnung, sondern eine weitere Quelle von Unannehmlichkeiten, denn sie musste sich nun tagtäglich das trunkene Gefasel eines Mannes anhören, vor dem sie sich mehr und mehr ekelte.
Kirilin war nicht der Einzige, der keine Stunde lang nüchtern blieb, denn es gab mehr als genug Schnaps, um alle Angehörigen des Heeres mit mindestens einer vollen Flasche am Tag zu versorgen. Es handelte sich jedoch nicht um Aquavit, dem die Schweden medizinische Kräfte zuschrieben, sondern um russischen Wodka, von dem die Streifscharen Unmengen von Fässern in schlecht getarnten Verstecken entdeckt hatten. Nun torkelten die unterernährten Soldaten schon am Vormittag betrunken durch das Lager, und da sich die Offiziere einen größeren Anteil an der flüssigen Beute gesichert hatten, ging es mit der Disziplin bergab. Schirin war sich sicher, dass die Entdeckung der mit Reisig und schmelzendem Schnee getarnten Wagen kein Zufall gewesen war, denn es lag im Interesse der Russen, ihre Gegner mit allen Mitteln zu schwächen.
II.
Wie Schirin erwartet hatte, war Kirilin auch an diesem Tag sturzbetrunken und warf statt einer Begrüßung seinen Besuchern eine Wodkaflasche zu. Ilgur fing sie auf, setzte sie an den Mund und trank drei Finger breit daraus, ehe er sie an Bahadurs Kopf vorbei an Schischkin weiterreichte. Wie alle anderen glich auch der einst so prachtvoll gekleidete Leutnant mehr einer Vogelscheuche als einem Soldaten. Nun trank er so gierig, als hinge sein Leben vom Inhalt der Flasche ab, und hörte erst auf, als er zu husten begann und keuchend nach Luft rang. Schnaufend setzte er sich auf den Boden und begann, seine Fingernägel mit seinem Messer zu reinigen.
»Nun, Oleg Fjodorowitsch, was sagt der König?«, fragte er scheinbar desinteressiert.
Kirilin winkte heftig ab. »Carl labert nur noch dummes Zeug! Jetzt hat er doch tatsächlich von mir verlangt, einen Boten zu Gjorowzew zu schicken, um diesen aufzufordern, nach Süden zu marschieren und zu uns zu stoßen. Was denkt er sich eigentlich? Die gesamte russische Armee steht zwischen uns und dem General. Kein Kurier der Welt könnte ungeschoren zu ihm durchkommen. Selbst wenn ein Wunder geschähe und der Bote sein Ziel erreichen würde, wäre nichts gewonnen. Erführen Gjorowzews Soldaten, dass sie auf der Seite der Schweden gegen Russland kämpfen sollen, würden sie ihm den Gehorsam verweigern oder ihn gar umbringen!«
Schischkin tippte sich mehrfach an die Stirn. »Der Schwedenkönig ist ein Narr! Er hat nicht die geringste Achtung vor uns Russen und noch weniger Ahnung. In meinen Augen war es ein
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