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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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»Unsere Mutter hat sie uns geschenkt, als Natalja zwölf und ich sieben Jahre alt waren.«
    Schirin zog die Stirn kraus. »Meine Mutter nannte sich Natalja.« Sofort ärgerte sie sich, dass sie das verraten hatte, denn sie wusste immer noch nicht, was für ein Spiel man mit ihr spielte.
    Marfa übersah Schirins abwehrende Miene, umarmte sie und begann hemmungslos zu schluchzen. Schirin hing immer noch in den Fäusten der Dienerinnen und konnte sich der Frau nicht entziehen, so schnaufte sie nur unwillig und sah Jekaterina ratlos an.
    Diese lächelte so zufrieden, als sei ihr ein ganz besonderer Streich geglückt. »Wie wir es vermutet haben, ist meine Freundin Marfa deine Tante, mein Kind. Du bist sogar mit Pjotr Alexejewitsch verwandt, denn der Name deiner Mutter lautete Natalja Alexejewna Naryschkina. Ihr Vater, dein Großvater, war Alexej Naryschkin, ein Vetter der Mutter des Zaren.«
    Schirin zwinkerte ungläubig und war nicht bereit, diese Behauptung so ohne weiteres hinzunehmen. Jekaterina aber interessierte sich weniger für Schirins Verwandtschaft als für die Badewanne, die immer noch leicht dampfte. »Marsch, hinein mit dir – und wehe, du machst Faxen. Auch wenn du die Nichte meiner besten Freundin bist, macht es mir nicht das Geringste aus, dir den blanken Hintern zu versohlen.«
    Bevor Schirin etwas sagen konnte, hoben die beiden Mägde sie hoch und setzten sie wie ein kleines Kind in die Wanne. Das Wasser war heißer als in den großen Badezubern, die sie in Russland kennen gelernt hatte, und sie schrie auf. Nach ein paar Augenblicken hatte sie sich jedoch daran gewöhnt und wehrte sich auch nicht, als die beiden Mägde daran gingen, sie gründlich zu säubern, sondern begann es zu genießen.
    Marfa umkreiste unterdessen die Badewanne wie eine Glucke, die sich um das einzige Küken sorgt. Immer wieder sah sie Schirin an, seufzte, rang die Hände und dankte der Heiligen Jungfrau von Kasan für dieses ebenso unerhoffte wie sehnsüchtig begrüßte Geschenk, das ihre Nichte für sie darstellte. »Mein Kind, wie sehrmusst du bei diesen bösen Tataren gelitten haben!«, rief sie voller Erregung aus.
    Schirin wollte schon sagen, dass sie selbst eine halbe Tatarin sei und bei ihrem eigenen Volk gewiss nicht gelitten hatte. Marfa ließ sie jedoch gar nicht erst zu Wort kommen. Immer wieder stellte sie Fragen, die sie sich sogleich selbst beantwortete, bemitleidete und lobte Schirin in einem Atemzug und fragte schließlich nach dem Schicksal ihrer Schwester. Dabei riss ihr Redestrom ab, und Schirin konnte endlich antworten.
    Jekaterina achtete nicht auf das, was Schirin ihrer Freundin erzählte, sondern schmiedete weitere Pläne. »Wir werden Pjotr Alexejewitsch für heute Abend ein Fest geben und ihm deine Nichte dabei vorstellen. Natürlich müssen einige junge Offiziere dabei sein, vor allem Sergej Tarlow. Dem werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er sieht, wer sein Fähnrich in Wirklichkeit ist.«
    Schirin schrie auf. »Nein, nicht Sergej! Er darf niemals erfahren, dass ich eine Frau bin!«
    Jekaterina hob interessiert den Kopf. »Soll er nicht? Ach, so ist das!« Dann wandte sie sich wieder an Marfa. »Sende Boten aus, die ihn holen und auch die anderen Mitglieder der übermütigen Rasselbande, die wir in Sankt Petersburg kennen gelernt haben, Stepan Rasin, zum Beispiel, und Semjon Tirenko.«
    »Stepan heißt Raskin«, korrigierte Schirin sie.
    »Auch gut«, antwortete Jekaterina ungerührt und winkte Marfa zu gehen.

VII.
    Die zur Arbeit eingeteilten Soldaten vollbrachten ein Wunder, denn sie bauten bis zum Abend nicht nur ein großes Zelt auf, sondern richteten alles her, was zu einem prächtigen Fest gehörte. Dutzende von Fackeln und Laternen erhellten des Innere und den Vorplatz beinahe taghell, die Fahnen der Regimenter und Kompanien des Heeres dienten als schmückendes Beiwerk, und die besten Tambourmajore sorgten mit ihren Spielleuten für festliche Musik. Dazu lieferte die Regimentsküche der Preobraschensker Garden Tafelfreuden, von denen ein einfacher Soldat nicht einmal zu träumen wagte.
    Alles, was Rang und Namen hatte, versammelte sich bei Sonnenuntergang, an der Spitze der Zar, gefolgt von den Fürsten Menschikow, Repnin und Golizyn und allen Generälen, Obristen und Majoren der anwesenden Heeresteile, darunter auch Igor Nikititsch Schobrin, der sich in dem Ruhm sonnte, den Verräter Bahadur gefangen zu haben, sowie einige nachrangige jüngere Offiziere, die sonst so gut wie nie zu

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