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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sei, wenn sie als Bahadur starb, klammerte ein Teil von ihr sich an das Leben und hoffte wider alle Erwartung, der Zar würde nach einem Sieg über die Schweden gnädiger gestimmt sein als in dem Augenblick, in dem er das Urteil über sie gesprochen hatte. Zwischendurch fragte sie sich, was mit ihr geschehen mochte, wenn die Meuchelmörder Erfolg hatten. Da sie die Gespräche zwischen den Wachen draußen belauschen konnte und dabei erfahren hatte, dass Sergej sich ihretwegen mit dem Zaren angelegt hatte, hoffte sie manchmal, dass der Anschlag gelingen möge. Vielleicht konnten Sergej und Kitzaq die Verwirrung um den Tod des Zaren nutzen, um sie zu befreien. Dann aber musste sie sich sagen, dass es ihnen kaum möglich sein würde, die schweren Ketten zu brechen, mit denen man sie gefesselt hatte. Eher würden beidevon wütenden Anhängern des Zaren als Mitverschworene getötet werden. Trotz dieser düsteren Vorstellung lauschte sie jedem Wort, das in ihrer Nähe gesprochen wurde, und wartete auf einen Hinweis, ob Schischkin, Ilgur oder Kirilins Bursche Faddej verhaftet worden wären. Solange die drei frei herumliefen, konnte es immer noch geschehen, dass einer von ihnen an den Wachen vorbei gelangte und Pjotr Alexejewitsch tötete.
    »An seinem Tod wäre ich dann genauso schuld wie Kirilin und die von ihm ausgesandten Meuchelmörder!« Der Klang der eigenen Stimme kam Schirin fremd vor, und sie drehte sich erschrocken um, um festzustellen, ob jemand sie gehört hatte. Doch es war keiner der Soldaten auf sie aufmerksam geworden. So kauerte sie sich wieder auf den Boden und stellte sich vor, wie schön es wäre, auf Goldfells Rücken über die Steppe zu reiten und mit ihrem Falken zu jagen. Da sie den herrlichen Vogel vor mittlerweile zwei Jahren in Freiheit gesetzt hatte, würde er gewiss nicht mehr auf ihren Handschuh zurückkehren. Bei der Erinnerung an ihren Falken musste sie daran denken, dass sie keine siebzehn mehr war wie bei ihrem Aufbruch von der Burla, sondern in ihrem neunzehnten Sommer stand. Wäre sie bei ihrem Stamm geblieben, würde sie längst im Zelt eines Mannes wohnen und wäre schon Mutter. Als sie sich die Krieger ihres Vaters vor Augen führte, denen er sie hätte geben können, und auch die der Nachbarstämme, fand sie jedoch niemanden darunter, dem sie so bereitwillig ihre Schenkel geöffnet hätte, wie es einer guten Ehefrau zukam. Sergej war der einzige Mann, der ihr je imponiert hatte, und sie verzehrte sich fast vor Sehnsucht nach ihm.
    Schirin war so in Gedanken versunken, dass sie kaum wahrnahm, wie das Zelt geöffnet und die Plane, die den Eingang verdeckte, zurückgeschlagen wurde. Erst als helles Licht hereinfiel und sie zwang, für einen Augenblick die Lider zu schließen, bemerkte sie, dass mehrere Männer eintraten. Als sie die Augen wieder öffnete, stand einer der Adjutanten des Zaren mit vier Soldaten vor ihr.
    »Auf die Beine, du Hund!« Er hob den Fuß, um nach ihr zu treten,doch trotz der hinderlichen Kette wich Schirin ihm mit einer schnellen Bewegung aus. Er knurrte leise, weil er den Gefangenen verfehlt hatte, und befahl einem Soldaten, die Kette an dessen Fuß zu lösen.
    »Versuche nur nicht zu fliehen! Die Grenadiere haben strikten Befehl, dich sofort niederzuschießen«, warnte er den Tataren und wies mit dem Kopf zum Eingang. »Vorwärts, marsch!«
    Schirin lächelte freudlos. »Eigentlich kann es mir egal sein, ob ich erschossen oder aufgehängt wäre. Ich glaube, eine Kugel ist mir lieber.« Sie beugte sich vor, um loszurennen, doch zwei der Soldaten packten sie unter den Achseln und hielten sie fest. Die Männer waren zu stark, als dass sie sich hätte loswinden können, und so musste sie sich wie einen Gegenstand durch das halbe Lager schleppen lassen.
    Die Soldaten, an denen sie vorbeikamen, starrten verblüfft den Tataren an, der da vorbeigetragen wurde. Schirin sah in junge und alte Gesichter unter Grenadiermützen oder schwarzen Dreispitzen, wie sie außer den Dragonern auch die russischen Füsiliere trugen. Die Leute wirkten neugierig, aber nicht mehr so feindselig wie an dem Tag, an dem man sie gefangen genommen hatte. Einer spottete sogar darüber, dass man vier Gardisten und einen Leutnant bräuchte, um so ein schmales Handtuch zu bewachen. Ein finsterer Blick des Adjutanten brachte ihn jedoch rasch zum Schweigen.
    Die Männer schleiften Schirin zu einem Zelt, das kaum kleiner war als das des Zaren, aber sauberer und so gar nicht militärisch wirkte. In

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