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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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würde die Schande der Niederlage von ihrem Vater und den übrigen Kriegern abwaschen. Unwillkürlich fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn die Russen sie nicht so schnell als Mädchen erkannten, sondern sie bis in jenes ferne Moskau schleppen würden, dorthin, wo der wahre Unterdrücker ihres Volkes saß. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie vor dem Zaren stand, und bei dem Gedanken ging es wie ein Fieberstoß durch ihren Leib. Wenn sie Ruhm ernten wollte, durfte sie nicht den kleinen Anführer umbringen, sondern musste ihre Klinge gegen den Großkhan der Russen richten. Ihn zu töten wäre eine Tat, von der die Sänger in der Steppe noch in hundert Jahren singen würden.
    Der Gedanke an diesen Meuchelmord beschäftigte Schirin von dieser Stunde an immer wieder, bis er sich fest in ihr eingenistet hatte.

VIII.
    Auf dem Weg, den die Gruppe nahm, reihten sich die russischen Stützpunkte aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Meist waren es nur einfache hölzerne Befestigungen, gerade groß genug für ein paar Dutzend Kosaken, aber weiter im Westen wurden die Siedlungen größer und wirkten nicht mehr wie vorgeschobene Wehrbauten in einem frisch eroberten Land. Hier waren die Russen deutlich in der Überzahl. Die Männer trugen lange Bärte und waren mit weiten, bis zum Boden reichenden Kaftanen und warmen Mützen bekleidet, die bei den Wohlhabenderen mit Pelzstreifen gesäumt waren. Die Frauen steckten in ebenfalls voluminösen, aber ärmellosen Kaftanen, die man Sarafan nannte, und trugen so viele Röcke und Unterröcke, dass sie in Schirins Augen wandelnden Kugeln glichen.
    Wanja spottete über diese Leute. Seinen Worten zufolge hatten sie sich über den Ural geflüchtet, um so leben zu können wie ihre Ahnen, da das Tragen solcher Kleidung und vor allem das von Bärten im Westen des Reiches nun verboten sei. Schirin wusste zwar nicht, was er damit meinte, aber sie hielt die Russen immer mehr für ein seltsames Volk, das sich noch nicht einmal in seiner Tracht einig war. Als die Gruppe über Kazanskoje und Kurgan den Ural erreichte, begegneten ihnen Russen, die sich wie Sergej und Wanja die Wangen rasiert hatten und kurze Röcke und eng anliegende Hosen trugen. Schirin fand, dass die Männer darin agiler wirkten als ihre Kaftan tragenden Landsleute.
    Einige jüngere Frauen trugen Kleider, die oben weit ausgeschnitten waren und die Brüste halb zur Schau stellten. Schirin fragte sich, ob das Huren waren, jene unreinen Wesen, die der Mullah ihres Stammes als Ausfluss des Bösen bezeichnet hatte, und sie empfand Abscheu vor ihnen. Dennoch fasste sie sich bei der ersten Begegnungmit einem dieser schamlos gekleideten Wesen unwillkürlich an ihre eigene Brust. Mit so viel weiblicher Fülle konnten sich die beiden winzigen Hügelchen, die sie unter dem Stoff spürte, wahrlich nicht messen. Selbst Zeyna, die besonders stolz auf ihren vollen Busen war, würde hier vor Neid erblassen. Allerdings waren die russischen Frauen auch um einiges größer als die Khanum und viel kräftiger gebaut.
    Wanja bemerkte, wie Bahadurs Blick abschätzend über die Frauen glitt, und lenkte sein Pferd an seine Seite. »Das sind Einblicke, nicht wahr, Söhnchen? Da wird einem warm ums Herz – und ein Stück tiefer auch.«
    Schirins Gesicht verwandelte sich sofort in die undurchdringliche Maske, die sie stets aufsetzte, wenn sie mit ihren Bewachern sprach. »Ich weiß nicht, was du meinst!«, sagte sie abweisend und nahm sich vor, sich in Zukunft nicht mehr so neugierig umzusehen.
    Wanja zuckte mit den Schultern und schloss wieder zu Sergej auf. »Dieser Bahadur ist wirklich ein aalglatter Kerl. Da will man einen Scherz machen, und er lässt einen abfahren, als wäre man im Vergleich zu ihm ein Wurm. Die anderen Geiseln sind mir da schon sympathischer. Mit denen kann man wenigstens reden.«
    Sergej sah sich kurz zu Bahadur um und nickte verständnisvoll. Der Kerl benahm sich so hochmütig, als sei er der Sohn des Zaren und nicht der eines Steppenwilden. Mehr als einmal hatte er versucht, mit Möngür Khans Sohn ins Gespräch zu kommen, doch der Knabe hatte meist nur über ihn hinweggesehen und den Knauf seines Säbels gestreichelt. Sergej ahnte, dass Bahadur ihm die Waffe liebend gern in den Leib rennen würde, und überlegte, ob er ihn nicht so lange reizen sollte, bis der andere die Beherrschung verlor und blank zog. Es juckte ihm direkt in den Fingern, diesem grünen Jungen eine Lektion zu erteilen, aber gleichzeitig

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