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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Wirt nach, um etwas Fisch oder Zicklein für diesen verdammten Tatarenlümmel, wie er Bahadur für sich nannte, zu besorgen. Zum Glück sind die anderen Geiseln bei weitem nicht so wählerisch, dachte er. Ihnen hatte er erklärt, es gäbe in Russland nun einmal nichts anderes zu essen als Schweinefleisch, und ihr Prophet würde sicher nicht wollen, dass sie verhungerten. Einigen von ihnen schmeckte der Braten mittlerweile so gut, dass sie ihn schon verwundert gefragt hatten, weshalb der Prophet solch einen Leckerbissen verboten habe. Ihr Prophet habe wohl nie einen richtigen russischen Schweinebraten probieren können, war seine Antwort gewesen, und er hatte zustimmendes Gelächter geerntet. Bahadur aber erwies sich als härterer Brocken, denn er verschmähte den Wodka, was an sich schon eine Sünde war, und alles, was entfernt nach Schwein aussah oder roch.
    Nachdem Wanja dem Wirt mit viel Mühe ein Stück geräucherten Störs abgehandelt und es wortlos vor Bahadur hingestellt hatte, setzte er sich seufzend neben seinen Hauptmann. »Ich hoffe, wir sind bald in Moskau, Sergej Wassiljewitsch, sonst bringe ich diesen aufgeputzten Tatarenknaben noch um.«
    Sergej lächelte ihn augenzwinkernd an. »Das solltest du bleiben lassen, Iwan Dobrowitsch. Wie du selber gesagt hast, lasse ich dem, der sich an dieser Geisel vergreift, die Eingeweide aus dem Leib peitschen.«
    »Ach, hätte ich doch mein großes Maul gehalten!«, klagte der alte Wachtmeister. Sein Unmut über Bahadur hielt jedoch nur so lange an, bis er ein großes Glas Wodka und ein mächtiges Stück Schweinebraten vor sich sah. Die Dragoner und einige Geiseln hielten wackermit, und als sie sich schließlich schlafen legten, war keiner von ihnen mehr nüchtern.
    Außer Schirin hatte sich niemand die Mühe gemacht, sich um ein Zimmer zu kümmern, und so streckten sich Bewacher, Geiseln und einige Gäste, die sich anfangs noch scheu im Hintergrund gehalten hatten, in wildem Durcheinander auf den Bänken in der Gaststube aus, wenn sie nicht gleich vom Alkohol bezwungen unter die Tische rutschten und zu schnarchen begannen.
    Als Schirin den Raum verließ, dachte sie daran, dass sie nun niemand hindern konnte, ihr Pferd zu satteln und in ihr Ordu zurückzukehren. Doch sie verwarf die Idee sofort wieder, denn ihre Flucht würde den Zorn der Russen auf ihren Stamm lenken, und nach der Strafaktion, die darauf folgen musste, würde Möngür sie höchstwahrscheinlich im Zorn erschlagen. Also musste sie ihr Schicksal auf sich nehmen und versuchen, vor ihrem unvermeidlichen grausamen Ende noch eine große Tat zu begehen.
    Mit einem kaum hörbaren Seufzer stieg sie die Treppe hinauf und befahl der Wirtsmagd, die ihr begegnete, ihr eine Schüssel und einen Eimer Wasser zu bringen. Zwar hatte Schirin sich bereits am Bach gewaschen, doch sie war endlich einmal allein und wollte die seltene Gelegenheit nutzen, sich von Kopf bis Fuß zu säubern, wie die Frauen ihres Stammes es in lauen Sommernächten am Ufer eines Sees oder Flusses zu tun pflegten. Sie drückte der Magd, die ihr gerne behilflich gewesen wäre, eine Kopeke in die Hand und schickte sie fort. Das Mädchen zog einen Flunsch, trollte sich aber und schlich den Rest des Abends um Sergej herum, der inmitten der Schläfer noch aufrecht saß und sich einer Wodkaflasche widmete. Zum nicht geringen Ärger des Mädchens zeigte der Mann kein Interesse an ihr, sondern machte von Zeit zu Zeit eine Handbewegung, als wolle er jemanden erwürgen. Sie konnte ja nicht wissen, dass der Offizier dabei an einen aufgeputzten Tatarenjüngling dachte, der ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte.

IX.
    Der Ural stellte für Schirin, die nur die flache Steppe gewohnt war, eine besondere Herausforderung dar, denn der Weg der Gruppe führte nun in schier endlosen Kehren und Windungen zwischen hoch aufragenden Steilhängen und tiefen Schluchten bergan. Oft musste sie den Blick von den Abgründen unter ihr abwenden, weil sie das Gefühl hatte, hineingezogen zu werden, und sie schloss ihren Hengst, der sich als trittsicherer erwies als die Pferde der anderen Geiseln, in ihr Gebet mit ein. Auch wurden die Herbergen, in denen sie Rast machten, immer schäbiger. Eigene Kammern gab es bald nur noch für ganz wohlhabende Reisende oder für Offiziere wie Sergej. Schirin sah sich gezwungen, mit den anderen in der Gaststube oder auf der Herdbank zu schlafen. Oft bestand der Abtritt nur aus einem Balken am Rande einer Schlucht und einem Seil, an dem man sich

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