Die Tatarin
wagte nicht, Sergej anzusehen. Einerseits fürchtete sie sich, mit ihm allein zu bleiben, gleichzeitig aber sehnte sich danach, von ihm in die Arme genommen zu werden und zu hören, dass er ihr weder ihr Täuschungsspiel noch die überraschende Heirat übel nahm. Sergej fühlte sich nicht weniger hilflos als sie, denn er war nicht gewohnt, mit Frauen umzugehen. Nach dem frühen Tod seiner Eltern hatte man ihn in ein Kadettenkorps der Armee gesteckt und zum Soldaten erzogen. Daher hatte er, von seltenen Besuchen bei Huren einmal abgesehen, kaum etwas mit dem anderen Geschlecht zu tun gehabt, und sein Kopf weigerte sich zu begreifen, dass er mehr als ein Jahr mit Schirin zusammengelebt hatte, ohne ihr Geheimnis zu entdecken. Dabei fielen ihm hundert Dinge ein, die ihn hätten misstrauisch machen müssen. Nach einer Weile, in der er ihr stumm zugesehen hatte, lächelte er verlegen und wies auf die Liege.
»Nach diesem aufregenden Tag musst du sehr müde sein, also nimm das Bett. Ich nehme mit dem Boden vorlieb.«
Schirin gab sein Lächeln vorsichtig zurück, kam aber nicht näher. »Ohne eine Decke, die dich warm hält? Oder willst du dich in eine der Landkarten des Zaren hüllen? Groß genug sind sie ja.«
»Das sind sie wirklich.« Sergej überlegte, ob er eine Wache bitten sollte, ihm eine frische Decke zu bringen, Schirin aber nahm ihm die Entscheidung ab, denn sie hob die Decke vom Feldbett und reichte sie ihm.
»Hier, nimm! Hier oben kann ich auch ohne Zudecke schlafen.«
Er deutete auf das Kleid, das einen weiten Ausschnitt besaß und ihre Unterarme frei ließ. »In diesem Fummel? Da erkältest du dich ja.«
»Gewiss nicht. Ich bin eine Tochter der Steppe!«, protestierte Schirin sofort, sah aber ein, dass sie Sergej damit nicht überzeugen konnte, und untersuchte das Feldbett auf seine Festigkeit. »Es ist zwar nicht breit, aber vielleicht reicht es für uns beide. Schließlich haben wir ja schon öfter unter einer Decke geschlafen.« Das stimmte zwar, doch damals hatte Sergej nicht geahnt, dass eine Frau neben ihm lag. Er erinnerte sich, dass er morgen ausgeschlafen sein musste, wenn das Heer weiter auf die Schweden zumarschierte, schob den Gedanken an ihr Geschlecht beiseite und stellte sich vor, sie sei wieder Bahadur. Froh, einen Funken der alten Kameradschaft aufglimmen zu spüren, bat er sie, sich als Erste hinzulegen. Schirin streckte sich auf der harten Kante des Bettes aus, um ihm genug Platz zu lassen.
»So wirst du noch hinausfallen!«, tadelte Sergej sie, während er sich vorsichtig neben sie schob. Sein Gewicht ließ die Liege einsinken, und Schirin rutschte sofort gegen ihn. Schnell drehte sie ihm den Rücken zu und ballte die Fäuste. Seine Nähe war ihr nicht unangenehm, aber sie fühlte sich dem, was er nun von ihr fordern würde, nicht gewachsen.
Sergej spürte, dass sie steif wie ein Brett wurde, und zog die Decke über sie beide. Wir sind das seltsamste Brautpaar ganz Russlands, dachte er mit einem entsagungsvollen Seufzer, denn die Wärme ihres Körpers stachelte seine Erregung an. Aber er begriff, dass er jetzt nicht das Recht eines Ehemanns fordern durfte, um das Vertrauen,das sie allmählich zu ihm zu fassen begann, nicht zu zerstören. Er würde den dünnen Faden der Sympathie, der Schirin mit ihm verband, sanft pflegen müssen und durfte ihn nicht durch seine Ungeduld zerreißen.
»Schirin, darf ich dich etwas fragen?«
»Ja, gerne.« Schirin atmete gepresst, denn sie wusste nicht, wie sie Sergej antworten sollte, wenn dieser sie nach dem Grund ihrer Maskerade fragen würde.
Sergej strich ihr über das kurze Haar, das für einen Jungen genügen mochte, bei einer Frau aber völlig unangebracht war, und lächelte. »Bei Gott, was musst du alles durchgemacht haben. Du bist wirklich das mutigste Mädchen der Welt.«
»Es hat wenig mit Mut zu tun. Es war der Befehl meines Vaters und Zeynas, seiner Lieblingsfrau, der mich euch Russen ausgeliefert hat. Ich habe nur versucht, das Beste daraus zu machen.« Schirin zuckte dabei mit den Schultern und hoffte, Sergej würde endlich still sein. Der dachte jedoch nicht daran und erinnerte sie mit einem leisen Lachen an den ersten Teil ihres Ritts von Karasuk nach Westen.
»Du bist mir damals schon aufgefallen. Ich wusste nicht, warum, doch ich fühlte mich zu dir hingezogen. Dabei konnte ich deinen Hass auf mich fast mit Händen greifen.«
»Ich habe dich nicht gehasst«, antwortete Schirin nicht ganz wahrheitsgemäß. Sergej beschloss,
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