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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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die in ein ausgedehntes Netz von Straßen und Plätzen eingebettet waren. Kirilin und Schischkin schienen es darauf anzulegen, jeden einzelnen dieser Wege zu beschreiten, bevor sie die Geiseln zum Granowitaja Palast brachten, der seit mehr als zweihundert Jahren die Residenz der Großfürsten von Moskau und Zaren von Russland darstellte. Obwohl der jetzige Zar Moskau und den Kreml nach Möglichkeit mied und seiner neu gegründeten Stadt Sankt Petersburg in jeder Hinsicht den Vorzug gab, konnten die vor Ehrfurcht erstarrten Geiseln fühlen, welche Macht von hier ihren Ausgang genommen hatte.
    Vor dem Eingangstor zur Residenz hielten sechs Soldaten in den dunkelgrünen Uniformröcken der Preobraschensker Garden Wache. Grigorij Lopuchin kommandierte sie persönlich und begrüßte die Gruppe. »Seine Kaiserliche Hoheit, der Zarewitsch, bittet um ein wenig Geduld. Er ist noch im Gebet versunken, um für den Sieg der russischen Waffen und für seinen Vater, den Zaren, zu beten.«
    Sergej ärgerte sich über die Verzögerung, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als mit den anderen vor dem Tor zu warten. Lopuchin gab sich leutselig und versuchte, Sergej ebenso wie Schischkin und Kirilin in ein Gespräch zu verwickeln.
    »Unser Freund Oleg Fjodorowitsch« – Lopuchins Blick streifte dabei Kirilin – »hat uns von dem letzten Gefecht mit den aufständischen Tataren berichtet. Ihr habt die Kerle ja ganz schön zu Paaren getrieben.«
    Sergej zuckte mit den Achseln. »So schlimm war es auch wieder nicht. Es gab nur ein paar Verletzte, weil die Tataren sich uns ergeben haben.«
    Schirin wäre ihm am liebsten mit den Fingernägeln durch das Gesicht gefahren. Musste er ihren Vater und dessen Krieger so verächtlich abtun? Im Gegensatz zu ihm lobte Kirilin den Mut und die Kampfbereitschaft seines Gegners, des Emirs von Ajsary, in den höchsten Tönen und beschrieb, wie schwer es seinen Leuten angekommen war, dessen Stadt einzunehmen.
    Von den anderen Geiseln hatte Schirin jedoch gehört, die Krieger des Emirs hätten die Waffen gestreckt, als der erste Russe am Horizont aufgetaucht war. Kirilins Prahlerei bestätigte sie in der Meinung, dass alle Russen verachtenswerte Geschöpfe waren.
    Leutnant Schischkin schüttelte verwundert den Kopf. »Warum sind denn eigentlich Eure Grenadiere nach Sibirien geschickt worden, Oleg Fjodorowitsch? Aufstände in der Steppe schlägt man doch meistens mit Kavallerie und Kosaken nieder.«
    Kirilin warf sich in die Brust. »General Gjorowzew hat uns als Verstärkung für die Grenztruppen mitgenommen, denn der Aufstand drohte einen außergewöhnlichen Umfang anzunehmen. Unter seiner Führung haben wir die Angriffe auf unsere Festungen abgewehrt und sind sofort danach zur Offensive übergegangen. Steppenräuber wie die, mit denen Sergej Wassiljewitsch sich hat herumschlagen müssen, hätten wir selbstverständlich nicht verfolgen können. Aber gegen eine feste Stadt wie Ajsary waren meine braven Grenadiere genau das Richtige.«
    Schirin spürte ebenso wie Sergej das versteckte Gift in Kirilins Worten. Indem er ihren Stamm als eine Bande von Steppenräubern abtat, schmähte er ihren Vater und setzte gleichzeitig den Verdienst von Hauptmann Tarlow herab. Dabei konnte dieser weichlich und aufgequollen wirkende Mann weder Möngür Khan noch dessen Unteranführer Kitzaq das Wasser reichen, und neben Hauptmann Tarlow glich er trotz seiner protzigen Uniform mehr jenen großmäuligen, feigen Händlern, die die Stämme aufsuchten und dabei Versprechungen auf den Lippen und Betrug im Herzen trugen. Schirin schalt sich selbst, weil sie innerlich instinktiv Sergejs Partei ergriff. Bald aber konzentrierte sich ihre Wut auf den Zarensohn, denn sie fühlte sich gedemütigt, weil Alexej Petrowitsch sie und die anderen Geiseln wie Sklaven vor seiner Tür stehen ließ.
    Als die Glocken der Uspenski-Basilika zu läuten begannen, ging Lopuchin wie auf ein geheimes Zeichen auf das Palasttor zu. Dieses schwang auf, als würde es von unsichtbaren Hände bewegt, und Schirintrat hinter Sergej in einen langen und trotz der vergoldeten Balken und Säulen düster wirkenden Gang, der sich weiter vorne im Halbdunkel verlor. Nach wenigen Schritten wurde dicht vor ihnen eine Tür geöffnet, und Lopuchin führte sie durch eine Reihe von Räumen mit bedrückend niedrigen, holzverkleideten Decken, in denen vor Gold strotzende Ikonen das spärliche Licht widerspiegelten und dadurch geheimnisvoll lebendig wirkten. Nur wenige Menschen

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