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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Diese aufgeblasenen Wichte behandelten sie und die übrigen Sibirier wie primitive Tiere, denen Gott aus unverständlichen Gründen die Gabe der Sprache verliehen hatte. Gleichzeitig dienerten diese Männer wie Sklaven vor dem Zarewitsch und krochen vor dessen Beichtvater Ignatjew beinahe auf dem Bauch. Kein Tatar, das war Schirins feste Überzeugung, würde sich je so würdelos benehmen.
    Nicht weit hinter ihr war das Fluchen des Kutschers und seiner Knechte zu hören, die für die Reisekutsche des russischen Thronerben verantwortlich waren. Obwohl man ein halbes Dutzend Pferde vor das Gefährt gespannt hatte, mussten die Männer immer wieder in die Speichen greifen, damit der prunkvoll verzierte Wagen nicht im Schlamm versank. In Schirins Augen hätte es sich für einen Krieger geziemt, im Sattel zu sitzen und an der Spitze seiner Männer zu reiten, doch Alexej Petrowitsch benahm sich wie ein kleines, verzogenes Kind. Nichts hatte ihm unterwegs gepasst, und nach jeder dritten oder vierten Nachtrast war er krank geworden, so dassseine zahlreichen Begleiter in einer heruntergekommenen Herberge in irgendeinem ebenso schäbigen Dorf hatten warten müssen, bis er in der Lage gewesen war weiterzureisen. Daran konnte nur der Wodka schuld sein, davon war Schirin fest überzeugt, denn wenn es etwas gab, bei dem Alexej Petrowitsch alle anderen übertraf, so war es die Menge an Schnaps, die er in sich hineinschüttete. Wenn der Zarewitsch morgens auf die Beine kam und in die Kutsche stieg, schimmerte sein Gesicht meist grün, und er verströmte den säuerlichen Geruch nach Erbrochenem.
    Wanja deutete mit einem Mal aufgeregt nach vorne. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir gleich an der Fähre.« Er schien Recht zu haben, denn der Vortrab hatte bereits Halt gemacht und stieg gerade von den Pferden. Nun schälten sich mehrere Gebäude aus dem Nebel, die wie die meisten Häuser in Russland aus mit der Axt geglätteten Baumstämmen errichtet worden waren.
    »Die Dragoner und die Geiseln zu mir!« Sergejs Stimme hallte gebieterisch und doch seltsam verzerrt durch die mit Wasser getränkte Luft. Als Schirin zu ihm aufgeschlossen hatte, saß er noch auf seinem Pferd und schwenkte den Hut, um die anderen auf sich aufmerksam zu machen. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis die Sibirier sich um ihn versammelt hatten.
    »Es gibt hier zwar Brücken, doch bei den letzten Überflutungen sollen einige weggeschwemmt worden sein. Aus diesem Grund werden wir die Pferde zurücklassen und die Fähre benutzen. Keine Sorge, die Tiere werden hier gut behandelt und versorgt.« Sergejs letzter Satz galt vor allem Bahadur, der als Einziger der Geiseln an seinem Reittier hing und sich auch dann selbst darum kümmerte, wenn Knechte bereitstanden.
    Sergejs Worte riefen Kirilin auf den Plan. Der Gardehauptmann hatte seine Strelitzenuniform in Moskau zurückgelassen und trug nun wieder die schlichte Montur, die der Zar seinen Offizieren vorgeschrieben hatte. »Deine Bagage wird warten müssen, bis der Zarewitsch mit seiner Begleitung übergesetzt hat, Tarlow!«, rief er unddrängte Goldfell, der sich mit weit geöffneten Nüstern dem Wasser genähert hatte, mit einer wedelnden Armbewegung zurück.
    Schirins Hand glitt unwillkürlich zum Peitschengriff, doch Sergej, der abgestiegen war, schob sich schnell zwischen den jungen Tataren und den Gardehauptmann. »Wir halten Euch nicht auf, Oleg Fjodorowitsch.« Sergej zwang seine Lippen zu einem Lächeln, dem jede Wärme fehlte, und schob Kirilin auf den Prahm zu, der gerade aus dem Nebel auftauchte. Schirin starrte entgeistert auf das Boot und hob die Hände. In der Steppe hatte sie so manchen Fluss durchschwommen oder auf einem Kelek, einem Floß aus aufgeblasenen Ziegenhäuten, überquert. Diesem plumpen, halb verfaulten und schief im Wasser liegenden Ding aber wollte sie sich nur ungern anvertrauen, denn es sah so aus, als würde es jeden Moment voll laufen und untergehen.
    »Mit dem da sollen alle diese Leute den Fluss überqueren?«, fragte sie Sergej mit gerümpfter Nase.
    Sergej bleckte die Zähne. »Uns wird nichts anderes übrig bleiben, es sei denn, du bestehst darauf, dass dir der Zar eines seiner großen Schiffe schickt, zum Beispiel die Sankt Peter und Paul.«
    Schirin wandte ihm brüsk den Rücken zu, zog Goldfell beiseite und beobachtete, wie die Kutsche des Zarewitschs heranrollte und neben der Anlegestelle anhielt. Der verzweifelte Blick, den Alexej Petrowitsch der Fähre schenkte,

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