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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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versichern, dass er nicht beabsichtigt hatte, ihn zu einem Verstoß gegen die Gesetze seines Propheten zu verleiten, aber als er kurz darauf die Kammer betrat, lag Bahadur mit dem Rücken zur Tür auf seinem Lager. Sergej nahm an, dass der Junge nur so tat, als ob erschliefe, und wartete einige Minuten, doch da Bahadur sich nicht rührte, drehte er sich verärgert um und ging hinaus. Dabei verfluchte er sich wegen seiner Unachtsamkeit, dem Tatarenknaben Bier auftischen zu lassen, denn der Ausflug, der so viel versprechend begonnen hatte, war durch diese Dummheit zum Fiasko geworden.

VI.
    Schirin wollte auch am nächsten Tag Sergej die kalte Schulter zeigen, aber es blieb ihr keine Zeit, ihren Zorn zu pflegen, denn nach dem Mittagessen erschien Leutnant Schischkin mit der Nachricht, dass der Zarewitsch die Geiseln zu empfangen wünsche. Ihm folgten einige Diener mit großen Kleiderbündeln. Es handelte sich zumeist um türkische oder krimtatarische Tracht aus der Beute früherer Kriege. Die Teile sollten nun dazu dienen, den armselig gekleideten Sibiriern jenen Glanz zu verleihen, der für eine Audienz erforderlich war. Schirin hatte es als Einzige nicht nötig, sich fremder Gewänder zu bedienen, denn Zeyna hatte sie aus Angst, die Russen würden ihr den Lieblingssohn des Khans nicht abnehmen, übertrieben gut ausgestattet. Bislang hatte Schirin sich nicht um den Rest ihrer Habe gekümmert, der noch auf dem Tragsattel ihres Saumpferds verschnürt in einer Abstellkammer lag, doch nun verlangte sie vehement, dass man ihre Sachen hole.
    Schischkin war durchaus daran interessiert, den Tatarenprinzen in seiner Originalkleidung vorstellen zu können, und wurde nicht enttäuscht, denn in blaue Seide und roten Damast gehüllt stach Bahadur auch jetzt wieder aus den anderen heraus, sehr zum Unmut Ilgurs, der in einem weiten, türkischen Kaftan und einem kürbisgroßen Turban wenig kriegerisch wirkte.
    Sergej, der im vollen Waffenschmuck und mit frisch ausgebürsteter Uniform die Kammer betrat, hatte bei Bahadurs Anblick das Gefühl, gegen ihn eine graue Maus zu sein oder gar eine Ziege vor einer sprungbereiten Raubkatze. Obwohl er sich einen Narren schimpfte, konnte er dieses Empfinden nicht abschütteln. Es beeinträchtigte seine Laune, und kurz darauf verdarb Kirilins Erscheinen ihm endgültig den Tag.
    Da Sergej die Geiseln nach Moskau gebracht hatte, wäre es sein Recht gewesen, sie dem Zarewitsch und seinem Gefolge zu präsentieren. Oleg Kirilin hatte jedoch nicht vor, ihm den Ruhm zu überlassen. Der frisch gebackene Gardehauptmann erschien herausgeputzt wie ein Pfau in einer neuen Uniform, die nicht nach Zar Peters Anweisungen, sondern nach alter Tradition geschneidert worden war. Mit den gelben Stiefeln, dem roten, kaftanähnlichen Mantel und der eisengrauen Pelzmütze erinnerte sie an die Kleidung des nach dem Fürsten Lutochin benannten ersten Strelitzenpulks, der sich in zwei Rebellionen gegen den jetzigen Zaren hervorgetan hatte. Wäre Kirilin in dieser Uniform vor Pjotr Alexejewitsch getreten, wäre er wohl zum einfachen Soldaten degradiert oder gar nach Sibirien verbannt worden. Die Tatsache, dass der Mann sich so dem Zarewitsch zeigen wollte, verriet Sergej viel über die Zustände hier in Moskau. Anders als die Ausländer in der Nemezkaja Sloboda, die dem Zaren den Sieg wünschten, um weiterhin ihren Geschäften in Russland nachgehen zu können, schienen die Vertrauten des Zarewitschs mit einer Niederlage der russischen Truppen zu rechnen und auf den Tod des Mannes zu hoffen, der Russland mit eiserner Hand Asien entreißen und Europa zugesellen wollte.
    »Ist alles bereit?«, fragte Schischkin und sah Kirilin dabei an.
    »Wir sind bereit!« Sergej hatte nicht vor, hinter dem früheren Grenadier- und jetzigen Gardehauptmann zurückzustehen.
    Kirilin nickte und setzte sich in Bewegung. Leutnant Schischkin gesellte sich sofort zu ihm und verdrängte Sergej damit in die Reihe der Wachen, die den Offizieren folgten. Wanja, der mit einigen anderen Soldaten die Geiseln vorwärts trieb, hatte das Manöver beobachtet und bedachte Kirilins Rücken mit bösen Blicken, doch der Gardehauptmann nahm weder den Wachtmeister noch dessen Abneigung gegen ihn wahr, sondern schritt so hochmütig vor der Gruppe her, als sei er der Zar und die anderen ein paar Untertanen, denen er das alterwürdige Herz seines Reiches zeigen wollte.
    Der Kreml bildete eine Stadt in der Stadt mit einer Unzahl an Kirchen,Festungswerken und Palästen,

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