Die Tatarin
niemand von den anderen Gästen für seinen Teller, weil alle den fremdartigen Besucher anstarrten. Sergej amüsierte sich offensichtlich, denn er flüsterte Wanja und Bahadur zu, dass man kaum so ein Aufhebens gemacht hätte, wäre der Zar in eigener Person in die Gaststube getreten. Aber einen jungen Tataren in roten Pluderhosen, spitz zulaufenden Stiefeln und einem kaftanartigen Mantel hatte hier wohl noch niemand zu Gesicht bekommen.
Schirin war es unangenehm, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, auch wenn die Leute nicht feindselig wirkten und ihre unverständlichen Sprachen wie ein Wasserfall an ihrem Ohr vorbeirauschten. Daher atmete sie erleichtert auf, als der Wirt einen großen Krug mit einer stark schäumenden Flüssigkeit vor sie hinstellte und sie sich ein wenig dahinter verstecken konnte. Sie blies den Schaum weg, trank durstig und fand das Getränk herb, aber sehr erfrischend. Auch Sergej und Wanja hatten einen Krug vor sich stehen, tranken aber nicht, sondern hörten dem Wirt zu, der wortreich und halbwegs verständlich die Erzeugnisse seiner Küche anpries. Der Wachtmeister bestellte sich einen Schweinebraten, Sergej hingegen wählte Fisch und schlug Schirin vor, das Gleiche zu nehmen.
»Besseren Fisch als bei mir werdet Ihr im ganzen russischen Land nicht finden«, lobte der Wirt sein Angebot.
Schirin musste nicht überredet werden, denn Fisch war ihr inzwischen lieber als alles andere. Während der Wirt in die Küche hineinrief, deutete sie unauffällig auf die anderen Gäste. »Das scheinen mir sehr seltsame Menschen zu sein!«
»Es handelt sich ausnahmslos um Leute aus den westlichen Reichen. Der dort drüben mit der langen Pfeife ist ein Holländer, der neben ihm ein Engländer, und unser Wirt stammt aus Sachsen.«
Während Sergej Bahadur erklärte, wie man die anderen Gäste aufgrund kleiner Unterschiede in der Kleidung ihren Heimatländern zuordnen konnte, amüsierte er sich gleichzeitig über die Achtung vor seinem Wissen, die sich in der Miene des jungen Tataren spiegelte. Der Bursche hatte mit einem Mal seinen Hochmut abgelegt und sog alles, was er ihm erklärte, auf wie ein Schwamm. Dabei wirkte er jünger als seine schätzungsweise fünfzehn Jahre und beinahe mädchenhaft naiv. So war ihm Bahadur viel sympathischer.
Als Sergej sich seinen Krug neu füllen ließ, trat einer der Gäste an den Tisch und verneigte sich vor ihm. »Was meint Ihr, Hauptmann, wie lange wird es noch dauern, bis die Schweden in Moskau einziehen?«, fragte er in gebrochenem Russisch.
»So weit kommt der Feind nicht! Aber keine Sorge, deine Neugierde wird gestillt werden, denn anlässlich der Siegesparade werden wir den Bürgern von Moskau einen Haufen gefangener Schweden vorführen.«
Die meisten Männer lachten, einer jedoch wiegte mit besorgter Miene den Kopf. »Wenn es nach mir ginge, könnte ich auf die Schweden gerne verzichten. Mein Großvater – Gott gebe ihm die ewige Seligkeit – hat mir erzählt, wie diese Ungeheuer in meiner Heimat gehaust haben. Die geben sich nicht damit ab, dir einfach nur den Kopf abzuschlagen, sondern foltern dich in einer Weise, dass du deine Mutter verfluchst, weil sie dich geboren hat.«
»Alte Übelkrähe! Uns wird gewiss nichts passieren. Schließlich sind wir keine Russen«, unterbrach ein anderer ihn spöttisch.
Nicht alle teilten diese Meinung, und ein Mann drückte aus, was viele dachten. »Wenn die Schweden uns am Leben lassen, werden sie uns jeden Taler, den wir besitzen, als Kontribution abnehmen, unsere Pferde wegführen und unsere Söhne als Rekruten verschleppen. Wir werden froh sein müssen, wenn sie unsere Frauen und Töchter verschonen und sich mit unseren russischen Mägden begnügen.«
»Ich fürchte die Russen fast noch mehr als die Schweden«, warf ein Dritter mit hohler Stimme ein. »Der Pöbel ist aufgepeitscht und außer sich vor Angst. Als ich gestern in Moskau weilte, hat man mir Erdbrocken und Steine nachgeworfen, und es waren beileibe nicht nur Gassenjungen, die das gemacht haben.«
Nun mischte sich auch der Wirt ein. »Für die Russen gelten alle Ausländer als heimliche Verbündete der Schweden, und uns hält man für deren Spione. Hätten die Popen nicht so viel Angst vor dem Zaren, würden sie uns schon längst den Mob auf den Hals gehetzt haben. Glaubt mir, ich habe jeden Tag Angst vor der Nachricht, Zar Peter sei im Krieg gefallen. Der Zarewitsch rutscht vor den Mönchen und Metropoliten auf den Knien und wird uns gewiss nicht
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